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Innereien, im Allgemeinen

Ich muss 9 oder 10 gewesen sein, als ich bei einer Freundin zum Abendessen blieb. Ihre Mutter fragte mich im Laufe dessen was mein Lieblingsessen sei. Was man eben so fragt. Gerade in diesem Umfeld. Die Gutverdiener-Siedlung des Dorfes. Natürlich gehen die Kinder alle später aufs Gymnasium, lernen ein Instrument und verbringen ihre Urlaube in Frankreich oder Skandinavien. Nicht an der Adria, wie die Handwerkerkinder. Weil ich, noch dramatischer, ein reines Dorfkind mit zwei arbeitenden Eltern war, lag der Erwartungshorizont für meine Antwort wohl im Bereich Nudeln mit Tomatensoße oder Fischstäbchen. Die 9jährige Bella fand Fischstäbchen abscheulich und antwortete daher wahrheitsgemäß. “Saure Nierchen mit Sahnesauce und Kartoffelpüree.” Der Blick der Freundinnen-Mutter zeugte von ausgesprochener Verblüffung. Das Kind isst also Innereien. Auch als Erwachsene stehe ich mit meiner Begeisterung für solche Spezialitäten innerhalb meiner Peergroup eher alleine da. Ich mag Nieren mit Soße, Leber mit Zwiebeln, gepöckelte Zunge oder Herz mit Rotweinsud und Spätzle. Nicht alle Innereien - die Liebe meines Vaters für gebackene Kalbsbäckchen kann ich nicht wirklich nachvollziehen. Jetzt verstehen’s mich nicht falsch - wir essen fast alle zuviel Fleisch. Gar keine Frage. Ich empfinde Massentierhaltung als ungeheuerlich und wundere mich entsprechend wenig über Pferde, Ratten oder andere Dinge in Fertigprodukten. Also bitte. Nur muss ich sie jetzt wieder mit meinem Heranwachsen auf dem Land nerven. Da standen Rinder auf Wiesen, ich kannte mein Schnitzel und hatte es vereinzelt sogar persönlich gefüttert. Ich kannte den Schlachter und die Kilometerzahl zwischen ihm, dem Hof von dem das Tier kam und dem Metzger bei dem wir es später erwarben. The Circle Of Life und ich mittendrin. Als ich ein paar Jahre nach der Lieblingsessenfrage erfuhr, dass man abgepacktes (!) Fleisch in Supermärkten (!!) kaufen konnte, brach eine kleine Welt zusammen. Entsprechend verteidige ich bis heute, dass Fleischessen an und für sich nicht moralisch verwerflich ist. Außerdem mag ich nicht zugeben an etwas grundsätzlich Falschem einfach festzuhalten, weil ich es gerne tue. Ich versuche mir lieber eine tiefere Wahrheit zu konstruieren. Zum Beispiel warum Innereien heute einen dermaßen schlechten Ruf genießen, dass es in München Metzger gibt, bei denen man sie nur noch auf Bestellung bekommt. Ein regelrechter Ekel scheint manche beim Anblick eines rohen Stücks Leber zu packen, ohne, dass so recht klar ist warum. Dieselben Menschen spachteln derweil ungeniert große Brocken hergezüchteten Putenbrustfleisches. Paniert, versteht sich. Hat es etwas damit zu tun, dass es Fleisch aus dem Inneren des Tieres ist? Dass wir eine grundsätzliche Hemmung gegenüber tief drinnen liegenden Dingen hegen? Hat sich die Oberflächlichkeit mit der wir Menschen und Problemen sonst begegnen schon so tief eingegraben? Sensibelchen statt Sensibilität. Rohes, rotes Fleisch, rohe Emotionen, rohe Menschlichkeiten. Was wir nicht trivialisieren und bis zur Unkenntlichkeit verändern können, scheint uns Schwierigkeiten zu machen. Und weil mir keine charmante Überleitung einfällt, nehmen wir mal die flache Variante. Also, Fleischeslust. Na? Genau. Wer sich sein Fleisch selbst zubereitet, besonders das mit Fett durchzogene, das auch nach etwas schmeckt, darf keine Hemmungen haben. Da muss man hinlangen, durchaus mit Gusto. Wie man das eben macht. Auch beim menschlichen Fleisch in das wir unsere Hände graben. Und bevor ich jetzt gesteinigt werde: Natürlich können Vegetarier leidenschaftlich sein, darum geht es mir gar nicht. Die haben oft aus sehr guten, nachvollziehbaren Gründen einfach Tiere aus ihrem Speiseplan gestrichen. Nein, die potentielle Prüderie sehe ich bei den Fleischessern die Fleisch nur mögen, wenn es nicht danach aussieht. Daran musste ich neulich denken, als eine Gruppe sehr junger Frauen am Tisch neben mir in den fleischähnlichen Streifen Ihrer Salate stocherte und dabei über 50 Shades of Grey redete. Sie wissen schon, dieses Buch in dem die Autorin bei der Darlegung ihrer Fantasien alles rund um BDSM völlig falsch darstellt. Das behaupte ich jetzt einfach mal, weil gelesen habe ich es nicht. Und damit scheine ich mal wieder zu einer Randgruppe zu gehören. Zaghaft kauend und kichernd sprachen die Damen also sehr aufgeregt über die Geschichte einer jungen Frau, die sich einem wohlhabenden Kerl zuerst ausliefert und ihn anschließend zu einer beständigen, romantischen Beziehung bekehrt. Faszinierend daran war, dass die Damen auch hier um das Fleischliche herum redeten. Ein Buch dessen einziger Verkaufsgrund die Bettszenen sind und die Mädels erwähnten diese Szenen nicht! Ich rührte ziemlich fassungslos in meinem Tee herum und wartete auf etwas konkretes. (Sidebar: Frauen die allein im Cafe sitzen, sind in der Regel nicht verzweifelt. Im Gegenteil. Wir machen uns Notizen.) Aber nein. Andeutungen, mehr Gekicher, Kommentare über die Unsinnigkeit des Plots, alles wurde sehr enthusiastisch durchgearbeitet. Auf die Erwähnung von Handschellen, Peitschen oder wenigstens der inneren Göttin wartete ich vergebens. Mir fehlte auch die Vorstellungskraft wie die manikürten, glitzernden Hände Marinade in Braten massieren würden. Nicht, wenn jeder Griff nach dem Designer-Täschchen so choreografiert und geübt wirkt. Wie die eifrigen Leserinnen ihrer inneren Göttin sonst hemmungslose Befriedigung verschaffen, wollte ich mir dann nicht mehr vorstellen. Die obsessiv-dekorative Natur unserer Zeit hat dafür gesorgt, dass viele von uns nicht wissen, wie man Gulasch macht oder wie Pferd schmeckt. Was wir gut können, ist uns empören. Darüber, wie unsere Unkenntnis ausgenutzt wird. Darüber, dass die Gesellschaft so sexualisiert ist, während wir wegen all der Komplexe kaum noch welchen haben. Dass wir alle den Bezug zur Natur, zur Nahrung, zum Fleisch und zum Körper verlieren. Der Unterschied zwischen dem echten und dem virtuellen Leben ist nicht der Unterschied zwischen digital und analog. Jedes getippte LOL ist echter als Lasagne, der man auch im aufgetauten Zustand nicht ansieht woraus sie besteht. Was der Bauer nicht kennt, isst er nicht. Wir essen gern, was wir nicht erkennen. Wir lassen uns auch falschen Fortschritt, falsches Fleisch und falsche Nähe verkaufen. Unser Leben wird zur wohlfeil inszenierten Doku-Soap in der ungelernte Laiendarsteller die Rolle unserer Nahrungsmittellieferanten übernehmen und wir unsere Partner casten. Später erwähnte das Salat-Kränzchen in Nebensätzen die Männer in ihrem Leben. 60-Stunden-Wochen und durchhetzte Wochenenden. Man schläft abwechselnd überarbeitet auf der Couch ein. Restaurants und Bringdienste werden getestet, Urlaube geplant, alles auf später verschoben. Gut, da gewinnt die Tiefkühl-Lasagne schon an Reiz. Die wartet schließlich auf später, auf den richtigen Augenblick. Lässt sich nach Bedarf auftauen. Selbst Lasagne zu machen, braucht Zeit und alle Sinne. Vor allen dingen kann man sich nicht vor machen, dass die selbstgemachte Bechamel so schön fettfrei ist wie die in der Fertigpackung. Oder das Sugo nicht doch noch einen Schuss Barrolo verträgt. Innereien kauft man am Besten am Schlachttag, ganz frisch und natürlich beim Metzger des Vertrauens. Dann macht man sie schön sauber und brät sie gut an. Die Soße muss sämig sein, die Beilage vor Kohlenhydraten bersten. Dafür ist die Befriedigung imminent. Nichts für Alibifleischesser.
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Es ist so: könnte ich mir eine Traumwohnung bauen, sie bestünde zu zwei Dritteln aus Nischen. Aus Ecken und Hohlräumen unter Treppen, nutzlosen Winkeln und schwer zugänglichen halben Plätzen. Und in denen würde ich alles tun, außer essen. Vermutlich bräuchte ich so gut wie keinen Schreibtisch mehr. Keinen Lesesessel, keine Konsolen mit Deko-Kram drauf. Ich säße, mit großen Kissen und einer Decke bewaffnet, den Laptop auf dem Schoß, in besagten Ecken und Nischen. Würde arbeiten und lesen und Musik hören und Nachdenken. Mir ist klar, das ist nicht normal. Das ist sogar ausgesprochen neurotisch und vermutlich sollte ich mit einem Therapeuten darüber reden. Hatte ich als Kind zu wenig die Gelegenheit mir Höhlen zu bauen? Kompensiere ich meine Angst irgendjemandem zur Last zu fallen damit, möglichst wenig Raum zu beanspruchen? Verbiege ich mich einfach gern bis mir mindestens ein Fuß einschläft? Oder genieße ich die erschreckten Laute anderer Menschen, wenn ich unvermutet irgendwo sitze? Ich weiß es nicht und es ist mir mittlerweile auch herzlich egal. Im Gegenteil, ich frage mich manchmal warum andere ihre Nischen nicht mehr nutzen. Wo doch so ein abgegrenzter, leicht versteckter Raum wie ein kleines Paralleluniversum ist. Ein Ausstieg aus der großflächigen Darstellung menschlicher Elendigkeit. In meiner Ecke kann ich nichts mitbekommen, verschwinden. Auch wenn ich ganz allein bin. Dann verschwinde ich aus meinem Leben heraus in einen abgeschlossenen Bereich. In dem ist lediglich Platz für mich und meine Gedanken. Natürlich, müsste ich tatsächlich in einer Schlafhöhle leben wie z.B. in einer japanischen Großstadt, ich würde schnell die Sehnsucht nach eigenem Raum entwickeln. Aber so wie es jetzt ist, sind diese kleinen Fluchten der ideale Platz für große Ideen und Gedanken. Viele brauchen einen eigenen Raum, um bestimmte Dinge zu leisten. Darum sitzen Freelancer nicht am eigenen Schreibtisch sondern nerven ihre Umgebung in Kaffeehäusern. Wer heute ein Haus oder eine Wohnung plant, versucht oft schon sehr früh jedem Zentimeter einem Nutzen zuzuordnen. Und vergisst Raum zu schaffen, der einem erst noch sagt wofür er gut ist. Klar, in Zeiten dieser Mietpreise darf man da auch nicht verschwenderisch sein. Millimetergenaue Planung ist eine Kunst, die man sich viele einiges kosten lassen. Handtuchgroße Gärten und Planquadrate beherrschen die moderne Baulandschaft. Während ich meine Fachhochschulreife gemacht habe, lebte ich in einer großen Wohnung die früher mal eine Kürschnerei war. Ein hohes Haus mit seltsamen Ebenen, das beim Umbau in wirre Wohnungen aufgeteilt wurde. Die Folge waren die besten Ecken meines Lebens. Hinter der Wendeltreppe hinunter ins Erdgeschoss (es war auf einer Seite das Erdgeschoss, auf der anderen Seite ging man auf höhe des ersten Stocks in die Wohnung hinein) oder die L-förmige Nische vorne im Wohnzimmer. Die quietschenden Geräusche meiner Mitbewohnerinnen wenn ich wieder mal unerwartet irgendwo auftauchte, fand ich großartig. Wenn ich heute neuen Wohnraum beziehe (11 Umzüge and counting), dann orientiere ich mich an zwei Dingen: Am Licht (warum stellen so viele Leute ausgerechnet ihren Fernseher an die Wand mit dem besten Tageslicht..?) und an den Ecken. Das führt im Gegenzug zu oft großen freien Flächen. Und wissen sie was? Freie Flächen auf denen gar nichts steht, sind fast so großartig wie Nischen. Weil manchmal, da braucht man einfach nur Platz. Um etwas auszubreiten. Oder sich selbst auszubreiten. Wichtig ist, dass nicht alles gleichförmig ist. Der eigene Geist muss sich winden und bewegen können, wie Wind der durch Ritzen zieht. Womöglich ist meine Vorliebe für seltsame Raumkonstrukte die Sehnsucht nach dem Verlassen des festen Aggregatszustandes. Einfach mal nicht so tun als wäre man eine abnorme Ansammlung von Kohlenstoff. Aber gut, je weiter ich diesen Gedanken treibe, desto mehr haben die Hobbyanalytiker der digitalen Welt zu tun. An dieser Stelle muss auch mal Schluß sein. Schließlich sind Nischen auf die Plätze in denen wir Geheimnisse verwahren.