I am (not) my hair

Ja, ich weiß, dass hier mittlerweile zentimeterhoch der Staub liegt, da hängen überall Spinnweben und gelüftet müsste auch mal werden. *hilfloses Gestikulieren*

Neulich fand ich mich in einem Gespräch wieder, wo darüber sinniert wurde, welche seltsamen Dinge wir von Eltern und Ahnen erben. Gesten, Formulierungen, komplette Gesichtstopographien.

Dass ich mich nach und nach in meine Großmutter bzw. eine Kopie von meinem Vater verwandle, ist indes nicht überraschend, weil ich seit Tag 1 nichts anderes war. Während das Krankenhauspersonal nach meiner Geburt bei meiner Mutter immer erstmal nach dem passenden Kind fragen musste, wurde mein Vater ohne weiteres Wort zu mir geführt, weil der großgewachsene Mann mit den dunklen Locken, blauen Augen und schmaler Oberlippe jawohl nur zu dem quasi identischen Mini-Geschöpf gehören konnte.

Wie der Direktvergleich sehr schön zeigt:

Links Papa Donnerhall, Rechts Bella

Die dunklen Locken muss man wissen, im familiären Genpool heiß begehrt, haben sich in meiner Generation extrem rar gemacht. Während sowohl mein Vater als auch seine beiden Geschwister als bajuwarisch „ruassig“ bezeichnet wurden, teilen sich nur meine Schwester und ich die dunkleren Pigmente – sie Haut, ich Haare.

Hier jetzt bitte irgendeinen klugen Satz zu Wurzeln, Haarwurzeln oder Verwurzelung und der dazugehörigen Metapher denken. Es hat 400 Grad da draußen, also bitte.

Wie das so ist, die, mir tut das jetzt auch weh, Mähne, wurde zum Markenzeichen. Ich war „die mit den Haaren“. Erst hauptsächlich qua Volumen und Farbe, weil mir niemand beigebracht hat, was man mit Locken tut. (Praise be Black-Hair-Instagram, all Coconut-Oil, Silk-Pillowcases and Diffuser-Routines!) Außerdem fühlen sich alle wohler, wenn sie bei der Beschreibung auf Haare ausweichen können, anstatt Körperumfang oder unrunden Gang zu erwähnen. Und während ich mich nicht als außergewöhnlich eitel bezeichnen würde, wurden meine Haare die eine Sache, die ich unumwunden an mir mögen konnte. Natürlich erst nachdem ich jahrelang die Jennifer-Aniston-Frisur haben wollte. Die 90er haben niemandem gutgetan. Außerdem, abgesehen von horrendem Verbrauch von Conditioner, waren sie unkompliziert. Ich gehe zum Friseur, falls mir danach ist. Zum Spitzenschneiden. Haarschnitt, what’s a Haarschnitt?

Jedenfalls: Haare sind wichtig, aber wem sag ich das.

Das hier schreibt schließlich auch die Begründerin der Montagslocken. Der letzte Post dazu, soweit ich ihn finde, vom 6. Juli 2020.

https://www.instagram.com/p/CCSdDSVsTeG/

Man muss das alles wissen, um sich grob vorstellen zu können, wie sich der Herbst 2020 angefühlt hat. Sie wissen schon, nach der Sache. Man lernt in Sachen Humor des eigenen Kadavers schließlich nie aus und meiner fand es lustig, sich infolge der quasi Vergiftung durch etwas zu viel Cortison des Haupthaares zu entledigen.

Yes, you read that right, sie sind ausgefallen. Büschelweise. Bürsten, Hände, Badewannen voller langer, dunkler Lockenstränge und meine Tränen hinterher. Zuerst wollte ich es gar nicht begreifen, dachte das wäre nur ein bisschen mehr als sonst. Aber innerhalb eines Monats hatte ich einen soliden, unfreiwilligen Undercut und nur noch dünne Strähnen am Oberkopf.

Nach wochenlanger Krankheit, grade so wieder selbständig unterwegs und auf dem Weg zurück ins Leben ist einfach mal ein Teil der Identität futsch. Wann es aufhören würde, ob sie wiederkämen – es war alles nicht klar. Meine Hausärztin, ohnehin schon in mehrfacher Hinsicht am Rande ihrer Kapazitäten bei mir, verschrieb erstmal diverse Sanierungsmaßnahmen. Und eine Perücke.

Glauben Sie mir, im Winter 2020 war niemand so dankbar über verpixelte Webcams und pandemiebedingtes Homeoffice wie ich.

Ich hatte nie vor, sie länger zu tragen oder wollte mich mit dem Gedanken nicht anfreunden, entsprechend sollte es „irgendwas in dunkel und länger“ werden, was Herausforderung genug war. (Perückenindustrie, schwierig. Aber da kennen sich andere besser aus.) Der Gedanke daran, es als Option für einen neuen Look, etwas ganz anderes zu sehen, kam mir erst mal gar nicht. Zu verstört, entwurzelt war ich. Wer bin ich und wenn ja welche Frisur? Ich dachte an all die Frauen, die Farbe und Länge wild wechseln, die sich den Kopf rasieren oder gleich alles unter ein Tuch packen. An Krebspatientinnen, die nicht nur ihre Haare am Kopf verlieren, während sie um ihr Leben kämpfen. Kein Jahr vorher, war genau das meiner Mutter passiert, hatte meine Schwester zum Rasierer gegriffen und mit ihr eine Perücke ausgesucht. Es erschien von außen nicht so dramatisch, zumindest im Kontext. Es waren bloß Haare, die sie eh immer kurz geschnitten hatte. Wichtig war die Therapie, war die Gesundung, Haare kämen wieder. (Karma? That you?)

Ich kam mir gleichzeitig lächerlich und verletzt vor, als wäre mir eine große Ungerechtigkeit widerfahren, die für mich nochmal schlimmer war als für andere, weil meine Haare doch mehr waren als nur tote Hornzellen.

Bei jedem Waschgang des traurigen Rests wurde nachgezählt, wie viele sich wieder verabschiedet hatten. So viele Tränen. Parallel saß ich zur Nachsorge der ganzen Angelegenheit immer noch mindestens wöchentlich bei irgendeinem Arzt, einer von denen sagt irgendwann „Regain“, ein Mittel das mal für Herzpatienten entwickelt worden war, sich aber als Haarwuchskatalysator entpuppte (Science!). Zweimal am Tag sprühte ich also brav überall die klebrig-ätzende Flüssigkeit quasi den ganzen Kopf entlang. Ein Dutzend von den Fläschchen musste ich bis Ende des Jahres verbraucht haben. Ständig fuhr ich mit den Fingerspitzen auf meiner Kopfhaut umher, wartend, dass die ersten Stoppeln zurückkommen mögen.

Die übrigen Strähnen schnitt ich langsam kürzer, bis sie nur noch auf die Schulter fielen. Als würde Pandemie, gesundheitliches Chaos und Weltlage nicht reichen, dachte ich also darüber nach, wer ich bin, wenn nicht Haare. Wenn nicht all das, was man damit verbindet. Lange Locken, feminines Bat-Signal, bei gleichzeitiger Ungezähmtheit. Krone, Stilmittel, Beschäftigung für Hände beim Denken.

Könnte ich jemand anderes sein? Vielleicht ein kurzer Wuschelkopf, eine quirrlige (puh), unkonventionelle Person, die hellgrüne Dinge im Schrank hat? Eher in der French-Bob-sophisticated-blasiertheit Variante? Oder für immer hochgesteckt, nach hinten gestriegelt, streng und professionell? Warum zur Hölle habe ich solche Assoziationen im Kopf und kann daran bitte auch das Patriarchat Schuld sein?

Die Perücken-Phase dauerte gut ein Vierteljahr und die Akwardness der „hast du was mit deinen Haaren gemacht“ Kommentare macht mir jetzt noch Gänsehaut. Wobei die vor allem von Männern kamen und ich mich seitdem sehr ernsthaft frage, ob sie womöglich etwas leicht zu täuschen sind. Weil ich bin absolut dilettantisch in solchen Dingen und das Ding saß zwar ordentlich, aber meine Güte, nicht so gut? (Ich denke nicht, dass es ein derart durchdachter Move war, wo Mann es als Perücke registriert hat und dann erst recht etwas Nettes sagen wollte. Komplimente als sozialer Schachzug sind dann doch eher selten und tendenziell ein weibliches Werkzeug. Den Aufsatz, dass ich damit weibliche Sozialisierung meine und nicht Genetik oder Biologie, den kann ich mir sparen, okay?)

Es wurde 2021 und langsam, ganz langsam, natürlich zu langsam, kamen die Kringel zurück. Erstmal weiterhin irgendwie zusammengebunden, weggesteckt, weil einzelne fliegende Löckchen nur in Sofia Coppola Filmen gut aussehen.

Im Juli 2021 gab es dann die große Nervenprobe für mich. Ein Fest stand an, eins wo man sich zurechtmacht und aufhübscht und über Kleid, Schuhe und Lippenstift nachdenkt. Wo ich normalerweise die Locken mit dem Föhn bearbeite und dann keck mit einer Blume oder einer glitzernden Spange ein bisschen zurechtrücke. Aber noch waren da nur ein paar Zentimeter Gewuschel auf dem Kopf. Es war am Ende eine Versöhnung. Mit dem, was da war, mit dem, was kam, auch mit den Wurzeln – sehe ich mit Dutt doch endgültig aus wie eine leicht jüngere Version meiner Großmutter.

Hochsteckfrisur von Hinten, Locken, gehalten von einem blumengeschmückten Kamm

Es sind jetzt knapp zwei Jahre, seit ich mich etwas orientierungslos im Krankenhaus wiederfand, ein bisschen weniger als zwei, seit mein Körper sich der Zellen entledigt hat, die vielleicht zu viel Erinnerung daran enthielten.

Über allem lag Pandemie und Pandämonium, Stille, Distanz und für fast jeden von uns wenigstens eine Gelegenheit zum Neuerfinden, Wiederentdecken, Zeigen wer man ist. Manchmal frage ich mich, ob die Zeit ohne Montagslocken, ohne viele persönliche Treffen, mit ausreichend Raum zum Sinnieren sogar die einzig mögliche Option war, um mich damit auseinanderzusetzen, warum ich so an meinen Haaren hänge. Vielleicht war es auch mein Weg, Empathie mit denen zu entwickeln, für die die Veränderung zu viel war. Die Angst davor hatten nicht mehr genug gesehen zu werden oder, dass sich ihr Aussehen verändern könnte, weil das Fitnessstudio zu hat.

Es ist mehr als Darstellungsdrang, wenn wir unsere physische Erscheinung mit dem eigenen Charakter oder einer aktuellen Gefühlslage in Einklang bringen wollen. Es ist ausgeprägter denn je zuvor, keine Frage, people do it for the ‚gram, for the likes.

Von den immer noch nachwachsenden Haaren sind erschütternd viele Weiß. Ich hadere damit, weil mich quasi gerade erst gefunden habe und zupfe diese oft noch robusteren, sich genauso kringelnden Exemplare aus. Soviel zum neuen Selbstbewusstsein und der Unabhängigkeit von der Frisur. Nur, solange ich so tun darf als ob ich jung wäre, ähem.

Vor ein paar Wochen, als ich die ersten Montagslocken seit, you know, everything, gepostet habe, starrte ich die ganze Zeit auf die längeren dünnen Strähnen und wie unperfekt sie sind, wie offensichtlich. Aber sie sind jetzt eben auch Teil der Geschichte. Wie meine Narben, meine Kratzer und Flecken. Lädiert, aber brauchbar.

Aus den alten Wurzeln sind neue Haare gewachsen, mindestens so stark wie die davor. (Metapher bitte auch wieder selber denken.) Vor kurzem war es erstmal so heiß und meine Haare wieder so lang, dass ich sie nach oben stecken musste, um aus meinem Nacken keinen Wärmespeicher zu machen. Zum ersten Mal verstand ich, warum manche Menschen sich für einen „praktischen“ Haarschnitt entscheiden. Die haben sich einfach eher unabhängig gemacht, sind vielleicht einen Schritt voraus.

Ein Teil von mir würde, gäbe es ein nächstes Mal, zur blonden Pixie-Perücke greifen, glaube ich, hoffe ich. Haare sind wichtig, aber vielleicht auch, weil sie sich ändern können. Manche kommen zurück wie sie waren, oder werden anders oder sie bleiben einfach weg.

Ich bin nicht meine Haare, aber meine Haare werden ab jetzt immer nach mir aussehen.

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