Kein Jahresrückblick

  1. Die Intention ist abhanden gekommen. Reines überleben, die große Müdigkeit. Ein bisschen als wäre bei mir die Welle mit Verspätung angekommen. Which is on brand. Während der Rest sich in einer Art Doomsday-Routine findet, zieht das Jahresende eine dunkle Decke über mich. Aber vielleicht sollte ich einfach mal wieder ordentlich ausschlafen.
  2. Die Bubble hat einen Shift durchlaufen. Weniger schmerzbehaftet, mehr Champagner. Letztes Jahr mit der großen Sense durch die Online-Bubble gelaufen, um die schmerzenden Extremitäten abzutrennen und dieses Jahr den gewonnenen Platz mit neuen und vereinzelt einfach auch intensiveren Verbindungen gefüllt. Gut, richtig. Prinzipien haben tut weh, kann aber ein Gewinn sein.
  3. Gesundheit, ganz generell. Nicht nur im eigentlichen und verwandten Sinne, sondern auch als Thema. Wir reden jetzt über alternde Eltern, über unsere Verwundbarkeiten. Dein Impf-Status ist jetzt einfach ein Ding und ja Datenschutz dies und Privatsphäre jenes, es ist das erste Mal, dass ich so etwas im Sinne der öffentlichen Sicherheit begrüße. Ich brauch nicht überall Kameras und staatliche Überwachung, aber ich muss dir trauen können, dass du auf deine und meine Gesundheit achtest.
  4. Immer schon “trotzdem”. Als Mensch der mit Schmerzen, Krankheit und Neurodiversität lebt und diese Hürden immer schon hatte, der faszinierende Blick auf eine “gesunde” Gesellschaft, die von Corona zermürbt wird. Where’s your productivity now? Wie okay es plötzlich ist, Dinge nicht zu schaffen, niemanden sehen zu wollen. Hey es ist Pandemie, du musst nicht funktionieren. Und wir von der Abteilung chronisch Angedingst so: “Ach wirklich?” Ich bin gespannt wie lang die Empathie bleibt, ob das mit den unsichtbaren Leiden in Zukunft weniger Rechtfertigung braucht.
  5. The big surprise. Kleine Gedanken, wilde Geschenke und absurde Überraschungsgäste – als wäre ich plötzlich Teil der Menschheit. Die große Dankbarkeit. Hier, ein Dings, ich hab an dich gedacht. Würde gern erklären können, was das bedeutet, wenn man als Kind nie auf die Geburtstagsparty eingeladen war, wenn überhaupt jahrzehntelang niemand einfach so mal eben was für einen getan hat, weil man ja eh immer Aufwand verursacht hat, nicht noch mehr stören wollte. Ein bisschen als würde jemand das eigene Mürbteigherz aus dem Kühlschrank holen und langsam wieder weich kneten.
  6. Große Themen. Alle sind jetzt Experten für alles. Viren, Supply Chain, Wahlen und Schiffe im Suez-Canal. Aber hey, es ist mehr Science Fuck yeah und weniger FußballerfrauenHabenPodcasts.
  7. Kleine Themen. Der enge Kreis, die Sorge um Familie. Das plötzliche Froh-Sein nicht dem Ruf in die weite Welt hinaus gefolgt zu sein. Aber dadurch auch die steigende Wut, die Sorge um Menschen in Krankenhäusern, die man nicht besuchen kann. Unverständnis, dass es noch so viel Unvernunft gibt und dass der Unvernunft aber auch so viel Raum gegeben wird.
  8. Dafür Flucht in die Fiction. Netflix leergeguckt, über 40 Bücher gelesen und gehört, wie Extra-Luft zum Atmen. Viel Schrott dabei, aber auch Dinge, die hängenbleiben. Sich selbst durch Geschichten einordnen. Also das, womit ich vor 25 Jahren angefangen habe und was immer noch geholfen hat alles zu überstehen.
  9. Lernerei. Über 20 Tage Fortbildung dieses Jahr, dazu nochmal knapp 3 Wochen intensives lernen, für eine dann doch fast schon unspektakuläre Prüfung, aber halt auch mal so ein Zertifikats-Papperl, das in Zukunft nützlich sein könnte. Ich red mir immer ein keine Ambitionen zu haben, aber wehe wenn andere mir das unterstellen. Siehe auch die letzten Job-Wochen. Wo auch noch der eine Mensch, dem man das mit der Komplexität zu Diversität und Uncounsious Bias nicht erklären musste, geht und zurück bleibt man Frau mit weißen Jungs Vorgesetzten, die sagen “ich schau da gar nicht drauf, welches Geschlecht jemand hat.” (Hier schon mal ein Eselsohr machen, worüber ich mich nächstes Jahr intensiver aufregen werde.) Mit dem weiterziehenden Kollegen gleich noch alte und neue Wunden aufgerissen. Ich kann nicht ohne Verbündete, Herrgottnochmal.
  10. Wobei, Zukunft. Immer noch alles in Frage stellen. Karriere? Geld, ja, aber hm. Antiwork und Kapitalismus und doch lieber ein kleines Leben? Vorsichtshalber die Ideen-Schublade mal wieder auffüllen. Mit Botanicals und Businessplänen, vielleicht nochmal einer neuen Richtung. Womöglich werd ich nie irgendwo ankommen, solange es nicht “meins” ist.
  11. Andererseits, schon die kleinen Pläne lösen sich auf. Konzerte, Feste, Gelegenheiten: Puff. Im Sommer ein kurzes Luftschnappen, sogar einmal tpmuc, aber hm. Ein bisschen Kontakt brauche wohl sogar ich. Die Freude darüber, dass Menschen sich freuen einen wiederzusehen. Jedes mal Konfrontationstherapie weil mich mag doch keiner. Ich muss diese innere 13jährige jetzt echt mal in Griff kriegen.
  12. Oder mehr Abenteuer? Immer wieder Sehnsucht, immer wieder große Lebensplanfragen. Forever alone ist nicht für alle von uns ein Meme. Langsam werden die Witzeleien über den ferngesteuerten Tinder-Account müde. Ich weiß es doch auch nicht, am Ende ist das “ich kann mich niemandem zumuten” Argument stärker als jeder Wunsch nach Nähe.
  13. Gibt aber Alternativen. Der Tresen-Tribe, die anderen Mitkämpferinnen, zarte kleine Wurzeln in neue Gemeinschaften. Die Twittertimeline ist Kultur- und Buchlastiger, die Pegelwichtler jetzt irgendwie auch eine Gang, mein kleiner Kreis ist enger und verschworener geworden. We’re a champagne supernova. (Sorry.)
  14. Anderswo, die Axt. Impfzweifler, Corona-Beschwichtiger, man sägt sich durch die eigene Umgebung und der Rest tut es auch. Als immer-schon-radikale Schnittmacherin die kleine Hoffnung, in Zukunft mehr Verständnis zu ernten, wenn man Konsequenzen zieht, sich Dinge nicht gefallen lässt oder bestimmte Haltungen nicht neben sich erträgt. “Ja er/sie/ihr macht Witze über [Minderheit Ihrer Wahl] oder [ist egoistisch, heuchlerisch, unangenehm besserwisserisch] ABER so ein nett/lustig/schwer loszuwerden.” Cancel Culture ja bitte gern für Leute die eure Gesellschaft noch nie verdient hatten.
  15. Because we’re all introverts now. Die Welt will nicht zurück, kaum noch raus, sagt sie. Aber dann halt doch. Als die ersten wieder umtriebig werden, setzt Traurigkeit ein. Das alte Gefühl zurückgelassen zu werden. Darauf bin ich jetzt wenigstens vorbereitet. Bis Ostern vergraben wir uns alle Zuhause, dann wieder Sommerfeste, Festivals und andere Sachen zu denen ich nicht eingeladen werde und nach den großen Ferien treffen wir uns wieder online zum Lamentieren, dass es keinen Lockdown gibt. And repeat.
  16. Körper? Hm, ja, soso. Nach dem kleinen gesundheitlichen Abenteuer letztes Jahr erstmal Wiederaufbau an allen Fronten. Dann plötzlich Ehrgeiz. Wenn man sich dauernd bewegt, kann man sich dauernd bewegen. Vielleicht, wenn man dauernd die Muskeln stärkt, stärkt man dauernd die Muskeln? Ich stemme Hanteln und esse Fleisch quasi nur noch auser Haus, vielleicht beginnt hier eine Transformation. Linsen, Kichererbsen und Quinoa mit allem was die jetzt hier aufschlagende Gemüsekiste hergibt. Don’t worry, dafür gibt es jetzt auch Champagner hier.
  17. Eigentlich will ich schreiben, sollte ich schreiben. Aber wie das so ist mit der Therapie – je nötiger sie ist, desto mehr sträubt man sich. (einziger Vorsatz 2022, mehr aufschreiben). Jetzt wieder ein ganzes Tool mit so kleinen To-Dos befüllt, um regelmäßig was schreiben zu müssen und vielleicht auch mal alle Ideen für Zeug festzuhalten worüber ich dringend blogen müsste. Über plötzlich Geld zum Verplanen haben, über das mit der unsichtbaren Neurodiversität in der IT, etc, etc. Es gibt jetzt eine Schublade dafür, let’s see.
  18. Mehr schreiben, weniger kaufen. Fast anderthalb Jahre zusammenreißen, aber dann die Contenance beim Warenkorb verlieren, am Ende ist alles voller Lidschatten. (Wir berichteten) Ein Teil war durchaus ordentlich investiert. Die Rudermaschine, die Hanteln, die Sportklamotten – alles nach wie vor regelmäßig in Benutzung. Der neue Alkohol in der Hausbar? Manchmal ist ja dann doch jemand hier und man ist präpariert. Bücherregal, Küchendinge – überfällig. Der Stapel ungelesene Bücher auf dem Regal? It’s an illness, let’s not make fun of it.
  19. No buy year? Youtube lässt das gut aussehen, aber ne, eine Couch muss endlich her, dafür aber kein Rouge mehr. Dieses Jahr mit „Investieren“ angefangen, mit Versicherungen und Tagesgeld und blabla und alles ist sehr nervig und Papierkram, aber was für ein Privileg, mehr als je zuvor, Geld zur Seite legen zu können.
  20. Außerdem, niemand weiß was kommt. Ich war auf einer Hochzeit, hab um ein Leben gebangt, beobachte Anbandlungen und neue Lebensentwürfe. I want to be there for all of it. Mit einem neuen Kleid und einer Flasche Champagner. Oder einer Axt und Müllbeuteln, was auch immer halt so gebraucht wird. Weil, stellt sich raus, was ich immer gesagt habe, ist wahr: I’m good in a crisis. The bitch gets stuff done. Ich bin immer noch da, vielleicht sogar stärker als vorher, weil ich gelernt habe, wie fragil die meisten anderen (auch) sind. Wäre ich fotogener, dürfte mein Bild durchaus neben “Resilienz” in der Wikipedia stehen. (Ich hatte eventuell einen kleinen Schluck Champagner.)
  21. Komm schon 2022, die Benchmark ist so verdammt niedrig, du musst nur kein Typ auf Tinder mit Foto vom geangelten Fisch sein, das langt schon.
Phoebe <3

Honorable Mention:

10

5 thoughts on “Kein Jahresrückblick

  1. Die innere 13jährige hat mich spontan an mich selbst erinnert, ebenso der Umgang mit Lesestoff (wie Luft zum Atmen, genau!). Danke dafür. (bin über Hauptschulblues hier gelandet)

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