Aber jetzt ist man ja 30 und hat auch mal vernünftig zu sein. Also weniger passiv-agressives aufmerksam machen auf das eigene Unwohl und mehr Maßnahmen ergreifen. Social Media runter skalieren, frische Luft, Yoga (!), nachdenken.
Pommes mit Preiselbeeren, so wie ich sie mit 11 am liebsten gegessen habe und darüber sinnieren wann ich zu einer hauptsächlichen Konsumentin geworden bin. Nicht nur im Sinne von kaufen, sondern von verfolgen. Bücher lesen, Serien schauen, Meinungen aufnehmen aber nur noch Nuancen selbst formulieren.
Seit ich das Konzept Buchstaben grob verstanden hatte, habe ich geschrieben, gedacht, fantasiert. Ich hab sonst keine wirklichen Hobbies. Alles was ich mir beigebracht habe, steht damit in Verbindung. HTML gelernt um ein eigenes Blog machen zu können. Mit Software beschäftigt, um schneller aufschreiben zu können was mir in den Kopf kommt. Storytelling, Social Media, Präsentationen – alles um den Worten eine bessere Bühne zu geben. Und nun?
Es ist aber auch alles so fucking visuell geworden. Ich erwische mich dabei, wie ich grade online bei zu langen Texten oder längeren Kommentaren nur noch quer lese. (Querlesen? Is that a thing?) Gedruckt geht’s grade noch. Mit 9 hatte ich noch einen Schnitt von 3 Büchern pro Woche. Mit 19 war es ungefähr eines pro Woche. Jetzt sind zwei pro Monat genug.
Als jemand der sich für viele Dinge und grade auch Details interessiert (read: Nerd), ist dieses Internet ein bittersüßer Fluch. So viele Informationen, Meinungen und Geschichten! So, so viele Gelegenheiten immer noch tiefer in etwas zu versinken. Man kommt kaum dazu selbst etwas beizutragen.
Also setzt man sich, nur mit einem Notizbuch bewaffnet in das Lieblingscafe – so weit hinten, dass man kaum noch Netz hat – und versucht nachzudenken. Man kommt aber nicht dazu, weil eine der Damen vom Tisch hinter mir unfassbar viel zu erzählen hat. Von der Bekannten, die jetzt wegen des Kindes eben nicht ganz im Vorstand des großen deutschen Technologie-Unternehmens sitzt. Sie ist zwar im Management, aber das ist der Preis den man zahlt. Zahlen tut die Freundin in jeder Hinsicht, denn der Kindsvater ist wohl ein Anwalt der es versteht sich arm zu rechnen. Das Kind braucht aber auch extrem viel Aufmerksamkeit. Hat eine seltene Diagnose.
Ich sitze vor meinem Kaffee und dem Notizbuch und kann gar nicht selber denken, so dringlich ist das Gespräch hinter mir. Den jetzt werden nacheinander alle Diagnosen von allen Kindern aller Freundinnen aufgezählt. Es fallen verbale Fragmente wie “ein bisschen autistisch” oder “extreme Sensibilität, quasi nicht tauglich für den Schulbetrieb” und “so eine Mischung aus ADHS und manischer Depression”.
Ich zwinge mich zum Ausatmen, um keine absurden Geräusche zu machen. Die beschriebenen Kinder sind alle noch in der Grundschule, sie haben Heilpraktiker, Therapeuten und Globuli. Und Mütter mit schlechtem Gewissen. Die Mütter haben auch Heilpraktiker und Therapeuten. Was sie einnehmen, klingt aber nicht nach Globuli.
Die beiden Damen selbst beglückwünschen sich dann dazu, dass sie mittlerweile weniger arbeiten und sich auch mal was gönnen. Nach Starnberg fahren zum Beispiel.
In meinem Kopf rauscht es. Weil, eigentlich haben sie mit allem recht. Niemand sollte 80 Stunden arbeiten und Mütter müssen unbedingt auf sich acht geben und wenn diese Kinder leiden, muss ihnen geholfen werden.
ABER. A B E R ! macht es in meinem Kopf.
Das Notizbuch schreit, dass ich das alles sofort mitschreiben muss – aber ich bin gar nicht fähig dazu.
Das Gespräch ist mittlerweile bei Männern angekommen. Man ahnt es, hier gibt es keine Heilpraktiker und Therapeuten und generell nur Geschichten wo die Frau Dinge ohne Kerl regelt oder sogar erst ihren Weg geht, wenn er weg ist.
Vorsichtig schaue ich mich um – doch, noch bin ich in meinem Dorf am Inn, mit den vielen Hochzeiten und einem neuen Geburtenrekord, also dem generellen Jagdrevier der CSU.
Ganz langsam wird die jüngere der beiden Damen beim Erzählen leiser. Redet von noch einer Freundin. Die Vollzeit arbeitet, ein Fernstudium macht und sich jetzt auch stark in der Flüchtlingshilfe engagiert. So beeindruckt, dass die Erzählerin zum ersten mal bedächtig klingt.
Sie selbst überlege ja auch sich dort nützlich zu machen. Nicht zuletzt, so sagt sie am Ende kichernd, hat die beeindruckende Freundin im Helferkreis einen ganz tollen, frisch geschiedenen Ingenieur kennen gelernt.
Ich kritzele eine Einkaufsliste in mein Notizbuch. Die Story glaubt mir doch eh wieder keiner.
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