24 Letters – Brief 5

Was es mit den 24 Briefen auf sich hat, steht hier.

Postkartengrafik mit Text: "Ich sitze hier heute Abend und mein Kopf ist komplett leer, weil sich Arbeit und nicht beantwortete Nachrichten und Dinge, die ich erledigen will und Treffen, die ich vereinbaren möchte stapeln, aber, Dings, Kapitalismus. Darum machen wir es heute einfach. Zuerst - wie geht’s dir? Jetzt grade, so komplett.
Damit es nicht deprimierend wird: Wenn wir jemand einen großen, riesigen Batzen Geld geben würde und sagen, du kannst die Hälfte behalten, aber du musst mit der anderen Hälfte etwas Sinnvolles in Gang setzen - hast du spontan eine Idee, wo du ansetzen willst?"

Ah, wir sind dann wohl an der Stelle angekommen, wo ich anderen Fragen stelle, die ich ganz dringend mit mir selbst klären muss. Als ich die Frage formuliert habe, inmitten einer mindestens 50-Stunden-Arbeitswoche, umgeben von anderen unerledigten Kleinigkeiten und einer familiären Diskussion zur Aufteilung von Care-Arbeit und niedergedrückt vom schlechten Gewissen, wieder nicht auf Nachrichten reagiert zu haben, konnte ich vor Müdigkeit kaum noch gerade aus schauen und habe trotzdem leidlich geschlafen.

Jetzt gerade? It’s complicated. Das lange Osterwochenende war gut, wichtig, mit rumliegen und nichts tun und auf wenige Dinge konzentrieren, aber es illustriert auch mit wie wenig Energie ich gerade arbeite. Me being me, läuft natürlich parallel bereits die Ursachenforschung auf der physischen Seite. Blutwerte sagen: Bitte von allem etwas mehr, existierst du überhaupt, rücken aber nicht raus warum das so ist. Darum als nächstes so Hormon-Tralala. Und abgesehen davon, dass es mal wieder sehr nervt eine Frau im medizinischen Kontext zu sein, beobachte ich interessiert, wie ich damit in eine bestimmte Zielgruppe abdrifte. Man googelt, Instagram antwortet mit Anzeigen für irgendwelche ausgleichenden Wunder-Präparate mit sehr viel empathischem Marketing. Weil wenn Frau müde ist, energielos, Haare und Haut sich nicht ans Schönheitsideal halten, dann ist das nur eine Frage von Yamswurzel und Nachtkerzenöl. Okay, whatever. (Hier Tirade über kapitalistische Mechanismen und gesellschaftlichen Druck und so Zeug ausdenken.) Andererseits: Ich habe weder Mann noch Haus oder Kinder, sondern „nur“ einen Job, Ambitionen und den Wunsch Freundschaften zu pflegen (und zu lesen, zu schreiben, mich zu engagieren, am Weltgeschehen interessiert zu bleiben, ethisch vertretbar zu konsumieren aber doch irgendwie auch Geld zu investieren, weil Rente, well.) – wie kann ich schon so erschöpft sein.

Zugegeben, ich habe mich beruflich in eine interessante Situation manövriert. Eine, wo ich in eine kleinere Organisation gewechselt bin, die durchaus auch wusste, dass ich Kenntnisse und Fähigkeiten mitbringe, die ihnen aktuell sehr fehlen, die aber auch ein paar Veränderungen anstoßen würden. Das ist im Grunde super, weil ich mitgestalten und Leute vor mir her treiben kann, weil ich die Rückmeldung bekomme, dass ich in ein paar Dingen wirklich sehr, sehr gut bin, aber halt auch unsagbar anstrengend, weil Veränderung, puh.

Verändert hat sich generell viel, vor allem letztes Jahr und obwohl ich es langsam wirklich wissen sollte, klickte die Synapse quasi erst in den letzten Tagen: Ob nun selbst verursacht oder nicht, Veränderung ist immer auch mit Verlust verbunden, mit loslassen und das will durchlebt werden. Jetzt sind aber ich und mein spezielles Hirn, mein dramatisch langsames Nervensystem da einfach immer sehr lange damit beschäftigt, diese Wahrnehmung überhaupt an die Oberfläche zu bringen. Mit dem Wissen im Hinterkopf, mit den verspanntesten Schultern der Welt, kurzen, wirren Momenten von Traurigkeit und generellen Fragen dazu, ob ich mich gerade wohlfühle: Wir holen wohl jetzt die Trauerphase nach. Wir verarbeiten also jetzt alles, was seit dem letzten Sommer passiert ist. Wie unsagbar nervig.

Ohne jetzt irgendwas von Somatik zu faseln: Da kann ich natürlich so viel Magnesium einwerfen, wie ich lustig bin, gegen meine müde Muskulatur, gegen das unendliche Schlafbedürfnis und Wachphasen um 3 Uhr morgens, das ist halt viel Aufgewühltheit durch Trauer. „Grief demands a witness“ hab ich mal irgendwo gelesen (sehr hart an der Grenze zum Gefasel, habe Brené Brown in Verdacht) und als für immer Alleini, by default single station, ist das befürchte ich, wie ich darauf aufmerksam gemacht werde. Yoga hin, Pilates her.

Ach richtig, ich wollte ja eh zum Thema Zielgruppe. Als Frau online, die 40 am Horizont, wechselt der Algorithmus langsam aber merklich den Gang. Von Hot Girl, Booktok, Ragebait-Feminism Social Media mit Spuren von Selbstoptimierung, Side Hustle und That-Girl Morning Routine zu Skin-Care, Cortisol-Regulierung, Achtsamkeits-Flow mit Akzenten von Interior Design, Financial Planing und, Obacht, diversen „natürlichen“ Heilmitteln für alles was das Dasein bereithält. Solange dazwischen genug Katzen vorkommen, sehe ich das alles nicht tragisch, erkenne aber durchaus, dass so der Weg von Radikalisierung beginnen kann, wenn man kein 20-something-incel-bro ist, der mit Dropshipping a la Andrew Tate reich werden will. Es beginnt gar nicht mal so unvernünftig, mit Posts, die einem erklären, dass es okay ist keine große Corporate Karriere machen zu wollen, sondern lieber im Cottage im Wald mit Katzen und Gemüsegarten. Von da aus geht es in die vegan-kochende Kräuterhexen-Ecke, die das alles auch immer noch gut meint und mit Kreativität auch zum Eigenbrödlertum von Frauen aufruft – bin ich dabei, komplett. Wenn einem dann die ersten Manifesting Posts (speichere dieses Audio, um in 5 Tagen Reichtum zu bekommen!) kommen, die Astrologie-Aussagen unironisch und die Tarot-Karten dramatisch werden, leuchtet so eine Art digitale yellow brick road auf, die je nachdem in welche Richtung der Blick geht, durchaus Abbiegespuren für Wissenschafts-Leugnung, TERFism und Tradwife-Transformationen bereithält. (Wenn sie an dieser Stelle ausgestiegen sind: Glückwunsch, ich arbeite daran, weniger online zu sein.)

Das ist die Krux mit der vermeintlichen Flucht aus dem unabhängigen Individual-Hamsterrad, gerade für Frauen – sie führt oft geradewegs in ein umzäuntes Gehege, wo man sich nur vorübergehend sicher vor Diskriminierung, Auseinandersetzung oder gesellschaftlichen Erwartungen fühlt, weil man in einen Sog geraten ist, der doch nur Schneisen zwischen verschiedene Gruppen ziehen will, um uns auf Distanz zur Macht zu bringen. Kontrolle über das eigene Leben ist übel anstrengend, aber alternativlos. Ob jetzt im Blümchenkleid beim Brotbacken, im Business-Meeting mit messerscharfem Eyeliner oder im Labor mit anderer Leuten Blutwerten. Die alles-erklärenden-Dudes finden ihren Weg überall hin, trust me, ich konnte neulich lesen, wie ein Mann (nicht Arzt) einer mehrfachen Mutter etwas über Vorteile von Geburtsmethoden erzählt hat. Von so grenzenlosem Selbstbewusstsein muss man sich einfach mal inspirieren lassen.

Natürlich, dear reader, ertappe ich mich schon auch dabei, wie ich mein eigenes Empfinden wieder als Startpunkt für wilde Denkfahrten und Recherchen nehme, anstatt einfach mal in Ruhe nicht fröhlich zu sein. Wir kennen uns jetzt ja auch schon eine Weile. Es ist alles Teil vom Prozess. Im nächsten Schritt strukturiere ich mich aus dem Krisenmoment raus, inklusive Timeline. Wenn dieser Eintrag hier fertig ist, buche ich Züge in die umstrittene Hauptstadt, wo man Ende April versuchen wird mich davon zu überzeugen, dass vernünftige Menschen da existieren können. Ob ich das dann Urlaub nennen kann, wird sich zeigen. (Mir wurden zumindest ordentliche Bars zugesagt.)

Das ist auch so ein Punkt, wo ich mit all den auf social media inszenierten Optimierungswegen mehr als hadere: Wie asketisch und produktivitäts-hörig das alles ist. Ich muss demnächst mal ausführlicher darüber schreiben, aber all diese beige gekleideten jungen Menschen, die ihr komplettes Leben in Notion tracken, sind mir auch ein bisschen zu preachy beim Verzicht. Niemand muss Alkohol trinken, Fleisch essen, Milchprodukte zu sich nehmen oder irgendetwas rauchen. (Happy Bubatz Day to all who celebrate, besonders allen Raucher*innen in Bayern. Fuck you Maggus, du weißt nicht, was du gerade heraufbeschwörst.) Aber, wenn der Verzicht darauf in den Mittelpunkt gestellt wird, damit man mehr Zeit im Gym, am Schreibtisch und dem Side-Hustle (Droppshipping-AI-Podcast Genre) verbringen kann, puh, ich weiß nicht. Mehr Energie für Freunde, Familie, kreative Hobbies, ehrenamtliches Engagement und was auch immer dir Freude bringt, yo, aber doch nicht für die Monetarisierung des Instragram-Accounts?

Ich schweife schon wieder ab.

Wie es mir gerade geht? Naja. Ich vernachlässige sehr viele Menschen aber irgendwie reicht die Energie gerade nur für mich. Ich arbeite daran, vielleicht hilft ja der Frühling. (Natürlich war mein Vitamin D auch zu niedrig, was für eine Frage.)

Was ich mit einem riesigen Batzen Geld anfangen würde?

Vielleicht erstmal mit MacKenzie Scott telefonieren? (Sie wissen schon, die Exfrau von Jeff Bezos, singuläre Milliardärin, die versucht das Geld so old school für gute Dinge einzusetzen statt sich eine Rakete oder eine Jacht mit einem dritten Hellikopter-Landeplatz zu kaufen.) Oder mit John Green? Der Young-Adult-Autor / Youtuber, der doch eigentlich nur gern TBC ausrotten möchte.

Was ich versuche zu sagen: ich würde lange mit verschiedenen Menschen reden und dann entscheiden. Mein Impuls ist immer die Unterstützung von Frauen und Mädchen, deren Bildung, deren Gesundheit, deren Ideen und gerade aktuell ist das vielleicht der wichtigste Kampf, um uns nicht alle Jahrzehnte zurückzuwerfen. Vielleicht würde ich einfach alle möglichen Stipendien bezahlen, Gründerinnen unterstützen, Vertriebswege für Verhütungs- und Abtreibungsmedikamente aufstellen. All die Frauen finden, die klüger sind als ich, die riesige Ideen und Lösungen haben und einfach nur jemanden brauchen, der um sie rum Ressourcen zur Verfügung stellt. That sounds like fun.

Aus der Reihe: Wie ich bis heute über eine Szene aus The West Wing nachdenke, wo gegen Ende der Serie ein ordinär reicher Mann ins weiße Haus kommt und Chief of Statt C.J. Cregg fragt, was sie machen würde, wenn er ihr Geld in die Hand drückt, um die Welt zu verbessern. Ihre Antwort sind Highways in Afrika, Infrastruktur und ich ja, das könnte man dann anschließend auch in Angriff nehmen.

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