Allgemein

The Big A

Es gibt Dinge im Leben, für die ist so ein Blog geradezu prädestiniert. Die kleinen Alltags-Seltsamkeiten. Oder auch das Verarbeiten von größeren Angelegenheiten, zumindest so sie einen hauptsächlich selbst angehen.

Schreiben ist ja auch Therapie, gerade für mich. Und Therapie... nun, merken Sie sich mal das Stichwort.

Ich muss 15 gewesen sein, als ich das erste Mal bei einer Psychologin saß. In einem kleinen Behandlungszimmer, das eigentlich für noch jüngere Patienten gedacht schien. Zentrum für Jugendpsychiatrie hieß das damals. Einer der ersten Sätze den ich zu ihr sagte war, dass ich ein Alien bin. Jemand der hier nicht hergehört , sondern immer nur von außen zuguckt und nicht versteht was das alles soll.

In der Schule wurde ich damals, wie man heute sagt, gemobbt. Eine Wortführerin in derselben Klasse hatte mich mit Beginn der Realschule als nervtötenden, andersartigen Streber ausgemacht und fortan dafür gesorgt, dass niemand der nicht komplett durchs soziale Raster fallen wollte, mit mir reden durfte. Ich wurde melancholisch, dann verängstigt und schließlich hochgradig suizidal, die schulischen Leistungen fingen an zu schwanken. (Ich schrieb also Dreien.) Die Therapie kam ziemlich kurz vor knapp. (Und das auch nur weil ich sauber aus dem Leben scheiden wollte und mir als isolierter Teenager auf dem Land nicht viele Optionen blieben. Ich war dahingehend pragmatisch.) Ich sah mich als Alien in der Sigourney Weaver - Variante, also nicht putzig und friedlich.

Depressionen, natürlich. Womöglich war die Erlebte Ausgrenzung nur der letzte Tropfen, der ein schon lang zu volles Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Zu viel Zeit hatte ich womöglich in Krankenhäusern und bei Ärzten verbracht, zu wenig mit Gleichaltrigen oder in "normalen" sozialen Situationen. Dass ich die Spielkameraden und, naja Freundinnen, so sie denn da waren beizeiten daran erinnerte, dass sie nach Hause müssen - nun, ich war es halt nicht gewohnt.

Wie praktisch, dass ich mich am besten und am liebsten allein beschäftigt habe. Ich und mein Sandkasten. Ich und meine Schaukel. Ich und meine Bücher. Später ich und der Computer.

Anders, nicht anders genug

Also Therapie. Erst wöchentlich, später sogar einige Wochen stationär, schließlich in einer betreuten WG-Einrichtung (wo ich vergleichsweise die mit dem kleinsten Hau war. Das half auch.). Bis zum Studium ging ich als... okay durch. Das mit der Heilung von Depressionen ist so eine Sache, wenn sie nicht einfach von Hormonen ausgelöst werden.

Zwischendurch gab es wenigstens im Internet Menschen, die mich mehr oder minder verstanden. Die gelesen haben, was ich schrieb und die zumindest während der Adoleszenz ähnlich abgeschottet vom Rest der Welt waren.

Das Abi habe ich an einer anderen Schule gemacht, in einer extrem sozialverträglichen Klasse mit Menschen, die sich tatsächlich getraut haben sich mir zu nähern (Schwerpunkt Pädagogik/Psychologie, what was I thinking?) . Ich wurde ein bisschen mitgezogen. Wirklich hineingefunden, dazugehört habe ich aber weiterhin nirgends. Immer noch ein Alien, nur eben mittlerweile E.T. Womit ich aber leben konnte, schließlich wollte ich studieren und dann, soviel stand fest, dann würde das Leben wirklich losgehen. Mit anderen jungen Menschen, die auch viel debattieren wollten und nicht nur auf Partys gehen. Mit anregenden, neuen Impulsen. Endlich, endlich würde ich Gleichgesinnte finden und mich nicht mehr wie ein Alien fühlen. Ganz bestimmt.

Es war für sehr lange Zeit das letzte Mal, dass ich mich trauen würde optimistisch zu sein. Vielleicht, wenn ich etwas geisteswissenschaftliches an einer großen Hochschule studiert hätte und nicht einen Irgendwas-mit-Medien-Studiengang an einer winzigen FH in einem Städtchen von dem alle nur den großen Bruder mit dem Münster kennen. Ich meine, ich hatte schon... Freunde. Oder sowas in der Art. Kompagnons?

Es fanden sich WG-Feiern und unterschiedlich erträgliche Mitbewohner, lange Nächte, Knutsch-Partner auf Zahnmediziner-Partys, hier und da sogar Debatten, wobei hauptsächlich mit Dozenten die ich eine nach dem anderen in den Wahnsinn trieb.(Some things never change) Aber nach wie vor schienen alle einen Schlüssel, einen Code für etwas zu haben, zu dem ich keinen Zugang hatte. Tiefe, unverwüstliche Freundschaften. Verliebtheit. Spontanität.

Wenn ich auf eine Party mitkommen sollte, dann brauchte ich eine Woche vorher Bescheid, alle zur Verfügung stehenden Informationen und im Zweifel eine Exit-Strategie. Auf der Party selbst dann: Alkohol. Viel Alkohol. Weil meistens war es zu laut, zu seltsam, die anderen betrunken nicht so witzig wie sie dachten und überhaupt, warum können wir nicht einfach an einer Bar sitzen, reden und Cocktails trinken? Wo war meine gottverdammte Boheme, mein Tisch im Algonquin?

Für jeden Tag den ich komplett unter Menschen verbrachte, für jede durchgefeierte Nacht brauchte ich ein Wochenende allein in meinem Studentenzimmer, mit einer großen Schüssel Pasta und einer Serienstaffel. (Vor Netflix gab es Studentenwohnheim-Server.)

Als ich gegen Ende des Studiums den Anschluss verlor, weil ich zuerst nicht gleich fürs Praxissemester zugelassen wurde und nach dem Praktikum dann eine Meningitis hatte, war das zarte Geflecht aus Studien-Bekanntschaften auch schon wieder größtenteils dahin. Das neue Semester war zwar ein ausgesprochen kuscheliges, aber ich hatte zu viele Kämpfe hinter mir, um mich wirklich darauf einzulassen. Das war so ein Umarm-Haufen, was nochmal eine spezielle Sache ist. Aus, nun, seinerzeit ungeklärten Umständen reagiere ich auf spontane Berührungen tendenziell mit abwehrendem Zucken oder zumindest Anspannung. Was insofern bescheuert ist, als, dass es wenig gibt, was mich zuverlässiger beruhigt als eine völlig übertriebene Umarmung. So eine, nach der man kaum noch Luft bekommt. Ich weiß, I contain multitudes and contradictions.

Umzingelt von Windmühlen

Weil es so exemplarisch ist: Die Sache mit dem Praxissemester. Nur wer bis zum Ende des dritten Semesters alle Prüfungsleistungen der ersten beiden zusammen hatte, konnte ins Pflichtpraktikum. Aufgrund eines eher inkompetenten Dozenten, ("Frauen sind für so technische Studiengänge auch weniger geeignet. "), hatten am Ende knapp 30% des Semesters diese Leistungen trotz Zweitversuchen nicht zusammen, mir inklusive. Das Praktikum war aber schon besorgt, darum ging ich zurück nach München, mit der Idee eben dazwischen die Prüfung nachzuholen. Als ich genau deswegen später an der Uni war, wurde ich darüber informiert, dass aus unbekannten Gründen für 4 männliche Studenten eine Ausnahme gemacht wurde. Sie bekamen ihr Praktikum trotz fehlender Prüfungsleistung anerkannt.

Mein (feministischer) Don Quixote Modus war aktiviert. Ich trommelte einige der anderen Betroffenen zusammen und führte Gespräche mit dem Dekan, der Beauftragten für das Praxissemester und bekam schließlich einen Termin, bei dem wir unsere Fragen zu der Sache vorbringen konnten.
Und jetzt raten wir alle mal, wer bei diesem Termin am Ende allein saß und sich sagen lassen musste, dass man so nicht mit Dozenten spricht, während niemand zugeben wollte, dass man irgendetwas falsch gemacht hatte?

Damals habe ich die Welt nicht mehr verstanden, wie mich alle so hatten hängen lassen können. Ein Dutzend irritierte Studierende hätten eine andere Wirkung gehabt als eine wütende Isabella, die den Professoren Ungleichbehandlung, Missachtung der Regeln und letztendlich auch das fehlende Rückgrat zur Wahrheit vorwarf. (Ich weiß, wie man sich beliebt macht.) Was für gute Ausreden die Mitstudenten alle hatten. Schließlich ist es selbstverständlich strategisch unklug sich mitten im Studium mit den entscheidenden Menschen der Fakultät anzulegen. Gerechtigkeit hin oder her.

Das habe ich bis heute nicht gelernt, diese Art des langfristigen Entscheidens, picking the right battles. Manchmal komme ich mir deswegen ausgesprochen dumm vor. Sonst scheine ich nicht auf den Kopf gefallen, aber wenn sich jemand nicht an die Regeln hält, egal wie wichtig, werde ich sehr uneinsichtig und trotzig.

An dem Tag des Gesprächs hatte ich einen kleinen Nervenzusammenbruch und meldete mich recht verzweifelt bei einer Freundin, eine von diesen bemerkenswerten Internet-Menschen. Sie hatte keine Zeit für mich und ein paar Wochen später kappte sie alle digitalen Verbindungen. Auf Emails erhielt ich keine Antwort. Ask me again why I don't trust people.

Then again, then again, then again
You're always first when
No one's on your side
Then again, then again, then again
The day will come when
I want off that ride

(Incubus)

Und immer wieder bei 0 anfangen

Meine rosarote akademische Brille ging an dem Tag zu Bruch. Ich wollte nur noch diesen blöden Wisch und dann nie wieder einen Fuß in die hässliche Institution setzen. Mit Mitte 20 fühlte ich mich vollkommen allein, als kompletter Loser und dachte erneut, dass es keinen Sinn hatte irgendwie weiterzumachen. Schließlich zog ich mich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf und beendete das Studium, irgendwie.

Wo andere ein erstes Netzwerk haben, durchstarten, eine Karriere beginnen, war ich verbittert und orientierungslos. Wieder und wieder hatte ich gelernt, dass ich trotz meines Wissens, trotz meiner Fähigkeiten als Menschen nirgendwohin passte. Immer noch ein Alien.

Bis zu einem gewissen Grad hatte ich mich damit abgefunden. Es war auch später nicht unpraktisch diejenige im Start-up zu sein, die nicht bis um 4 Uhr morgens feiern geht und am nächsten Tag mit der Sonnenbrille ins Büro kommt. Weil ich mich nicht um Egos und Pseudo-Hierarchien, sondern um Probleme gekümmert hab, wurde mir viel erklärt und schnell einiges zugetraut. Gescheitert bin ich am Ende trotzdem immer an persönlichen Animositäten. Die erste Chefin, die dachte ich würde ihren Job wollen, weil ich ein einem Gebiet mehr als sie wusste und mich nicht zurücknahm. Der Bereichsleiter, der es nicht gut fand, wie selbständig ich mein Team führte, der Geschäftsführer, dem die Gunst der Shopmanagerin so wichtig war, dass ich verzichtbar wurde, als ich sie sachlich kritisierte.

Ich kann es nicht. Selbst wenn ich wollte. Mir fehlt das Radar, der Dolmetscher. Je älter ich wurde, desto dümmer und nutzloser fühlte ich mich deswegen. Es ist anstrengend, wenn man nur fragile Bindungen hat im Leben, weil man nicht einschätzen kann, was Menschen tatsächlich über einen denken. Was sie wollen. Warum sie mal da und mal weg sind. Depressiv, introvertiert, anders. Diese Labels hatte ich allel akzeptiert und ich dachte, ich bin eben einer dieser merkwürdigen Menschen, der keinen richtigen Anschluss findet. Den darum auch niemand will.

Es gab genug andere Dinge, mit denen ich mein Leben füllen konnte. Dachte ich. Bis Ende 2017. Da machte es mehrfach hintereinander ziemlich laut PENG in unterschiedlichen Bereichen meines Lebens und ich saß auf dem Boden eines tiefen Brunnens, aus dem ich kaum herausfand.

So fand ich mich zu Beginn 2018 mal wieder vor einer Therapeutin. Einer ausgesprochen direkten, geradlinigen Lady. Die machte sich furchtbar viele Notizen. Beunruhigend viele Notizen. Ich war ja einfach nur mal wieder depressiv, die Antidepressiva halfen nicht und was auch immer da gerade im Argen lag, musste sich doch fixen lassen. Kannjanichsoschwersein.

Kein Alien, aber sowas ähnliches

Natürlich hab ich mit 11 Streit vom Zaun gebrochen als meine Mutter mich aufgefordert hat etwas aufzuräumen und sie mir nicht erklären konnte wohin. Ich kann doch nicht ordnen, wenn es dahinter kein System gibt. Sachen einfach irgendwohin platzieren ist keine Ordnung, es braucht doch einen Plan wo alles hin soll.

Selbstverständlich überwerfe ich mich regelmäßig mit Menschen, wenn nicht alles genau nach Plan passiert, wenn Dinge spontan verändert werden. Selbst wenn Dinge spontan gut gemeint sind.

Ich plane von Makro bis Mikro. Von der Uhrzeit des Weckers am nächsten Morgen rückwärts zu mindestens 6 Stunden Schlaf, zu genug Zeit für Erledigungen, zu Pendelzeit inklusive Puffer zu maximaler Arbeitstag. Und innerhalb dieser Bereich dann nochmal genauer. Das tun alle vernünftigen Menschen, richtig? Ich kann doch nicht einfach... Dinge irgendwann tun?

Irgendwann stapelten sich die Notizen auf dem Schreibtisch der Therapeutin.

Natürlich habe ich es nie kommen sehen, die Zaunpfähle nicht verstanden, wenn Menschen aus meinem Leben verschwunden sind. Diese Grenzen, die man überschreitet oder eben nicht - wo sind die eigentlich eingezeichnet?

"Wären Sie einverstanden, wenn wir ein paar Tests machen?"

Sommer 2018, es war wahnsinnig heiß

Der Begriff war noch nicht gefallen, aber es schien auch nicht mehr nötig. Eine leise Ahnung hatte sich über den Sommer in meinem Kopf nach vorn geschoben. Der innere Sturm der depressiven Episode schien sich wieder zu beruhigen und ich machte erste vorsichtige Schritte zurück in die Realität. Aber die Fragen waren immer noch da und der Gedanke, dass noch etwas anderes nicht mit mir stimmt, der war schon viel länger ein treuer Begleiter.

Die nächsten Wochen bestanden aus Fragebögen, Interviews und beobachtet werden. Dieselben Situationen, wieder und wieder. Was war zuerst da, die Depressionen oder das Alien-Dasein? Natürlich, das Alien.

Isabella, spiel doch auch mit den anderen Kindern. Isabella, du kannst nicht immer andere Leute korrigieren, das ist unhöflich.

Bella, was machst du da mit den Tümpeln? Ich habe die Wasserschnecken gezählt und jetzt trage ich welche in den anderen, damit es gleich viele in beiden sind.

Bella, wo gehst du denn hin? In den Keller, der Trockner ist fertig. Woher willst du das wissen? Ich hab das Piepsen gehört.

Ich kann nicht schlafen, wenn auch nur ein Stand-By Licht eines Gerätes an ist. Meistens ist es mir zu hell. Auch, weil an den meisten Abenden alle Bilder des Tages immer noch durch meinen Kopf wirbeln und ich sie wie durch ein Sieb drücken muss, damit mein Hirn Ruhe gibt. Ich meine, das tun alle, richtig?

Die meiste Zeit verbringe ich allein. Aber eben auch, weil ich mir sicher bin, dass mich niemand dabei haben will. Ich dränge mich nicht auf und stelle keine Ansprüche, schon gar nicht, dass sich jemand für mich interessiert oder mit mir beschäftigt. Immer, wenn ich das versuche, bin ich am Ende erst recht allein. Vielleicht habe ich darum angefangen ins Internet zu schreiben. Da kann man wegklicken und ich bin es aber losgeworden. Weil nur, wenn ich unkompliziert bin und vielleicht lustig, dann darf ich mitmachen. Sonst hält mich niemand aus. Ich verstehe nicht, wie das für andere funktioniert.

Aber auch kein Android

Manchmal macht mich das traurig, aber nicht lange. Überhaupt hält kein Gefühl bei mir wirklich dauerhaft an. Wobei ich sie eigentlich erst merke, wenn sie halt am Anschlag sind. Ich bin nicht emotionslos, auch, wenn es oft so wirkt und ich selten von spontanen Gefühlen übermannt werde. Es ist ein Druck, der sich langsam aufbaut, den ich oft lange nicht deuten kann und der schließlich überläuft. Dann kann alles passieren. Ich dachte immer, so schnell wie mein Kopf ist, kommt alles andere eben langsamer hinterher. Darum hielt ich mich auch für so nachtragend. Ich erinnere mich an Dinge nicht aus der Distanz. Ich fühle sie, es ist jedesmal alles wieder da. Aus einer ungelösten Situation wird ein schneller, dunkler Loop in meinem Kopf, der meine Aufmerksamkeit wie ein schwarzes Loch bündelt.

Leidensdruck...so hätte ich das nie genannt. Ich bin halt nicht besonders liebenswert und habe manchmal auch noch Pech. Ich nenne mich auch nicht ernsthaft behindert, nur, weil mein Fuß nicht voll funktionsfähig ist. Ich komme zurecht. Mit allem. Es sind nur manche Dinge anstrengender. So, wie ich keine langen Strecken gehen kann, merke ich nicht was Menschen über mich denken, solange es sie mir nicht sagen. Es hat sich als relativ verlässlich herausgestellt anzunehmen, dass die meisten Menschen mich nicht besonders mögen.

Das ist eben meine Persönlichkeit, dachte ich.

Was es jetzt ist...ich bin mir nicht ganz sicher. Nur, weil die Alien-Sache jetzt einen Namen hat, heißt das nicht, dass es nicht auch Teil von mir ist.

"Was wissen Sie über das Asperger-Syndrom?"

und dann war es lange still

Der größte Zuwachs unter den diagnostizierten Menschen mit Asperger-Autismus kommt mittlerweile durch Frauen über 30. Es ist das Alter, wenn wirklich offensichtlich wird, dass Dinge nicht "normal" verlaufen, weil Beziehungen, Karrieren und Erfahrungen nicht dem Folgen, was man anhand von persönlichem Hintergrund oder der vorhandenen Intelligenz erwarten könnte. Bis dahin waren diese Frauen oft einfach nur "ein bisschen anders". Aber nicht anders genug, schließlich investieren die meisten Autistinnen unsagbar viel Energie darin zu imitieren was ihnen als Standard vorgelebt wird. So kann man sich durch eine Teenager-Zeit mogeln, irgendwie auch durch die Zwanziger. Etliche werden in der Zeit stattdessen mit anderen psychischen Krankheiten diagnostiziert. Depressionen, Angststörungen, sogar Schizophrenie.

Solange junge Frauen und Mädchen keine Ticks, keine drastischen kognitiven Probleme haben oder die klischeebeladene Hochbegabung a la Sheldon Cooper vorhanden ist  (überhaupt, fuck Sheldon Cooper) , werden sie kaum als Autistinnen eingestuft. Die Wissenschaft ging lange davon aus, dass Autismus einen hauptsächlich genetischen Faktor hat, weil viermal so viele Jungen wie Mädchen damit diagnostiziert werden. Erst langsam wird klar, dass man dieses Pferd vielleicht vom falschen Ende her aufgesattelt hat. Wenn sich Kriterien nur an männlichen Personen auf dem Spektrum orientieren, werden natürlich auch mehr von ihnen erkannt. Genetik spielt womöglich trotzdem eine Rolle - weil oft mehrere Frauen innerhalb einer Familie Autistinnen sind.

Ich weiß nicht ob und wie es anders gewesen wäre, hätte ich früher eine Erklärung bekommen. Ein Alien ist ein Alien, ob es einen Grund gibt oder nicht. Oder eben schon. Mit der richtigen Therapie, mit der Akzeptanz von gewissen Dingen, que sera.

Aus 30 Jahren Fragezeichen wird ein stiller Punkt

Bis heute habe ich darauf gewartet, dass mir jemand erklärt was an mir so falsch, so abschreckend ist, dass man auf Distanz zu mir geht, sobald ich nicht mehr nur die robuste, unkaputtbare Bella bin. Warum ich nirgends dazu gehöre, keinen Platz finde. Vielleicht warum ich so "witzig" geworden bin.

Dass ich in größeren Runden mit die lauteste Person sein kann, ist so eine Sache die bei mir für große Zweifel an der Diagnose gesorgt hat. Aber letztendlich ist es ein antrainierter Mechanismus. Selbstschutz, um nicht unangenehm aufzufallen weil man stumm in der Ecke sitzt. Eine Situation zu kontrollieren, ist besser als ihr ausgeliefert zu sein - selbst wenn es mehr Kraft kostet.  Außerdem ist Asperger kein Charakter und bestimmte Dinge sind manchmal “trotzdem” vorhanden. Zum Beispiel eine große Klappe mit Hang zur schnellen Pointe. Keinen Höflichkeits-Filter zu haben, unterstützt das eher.

Offensichtlich habe ich mir ein paar bemerkenswerte Techniken zugelegt, um davon abzulenken wie groß der Orbit zwischen mir und anderen Menschen eigentlich ist. Hashtags können wahnsinnig hilfreich sein. Überhaupt, Internet-Alibis.

Ich schweife ab, versuche schon wieder mich selbst mit einer launigen Bemerkung zu untergraben. Um unter anderem auch das zu stoppen, wurde mir eine Verhaltenstherapie nahegelegt. Aktuell würde mich das noch überfordern. Es ist ein langer Weg, um sich selbst gleichermaßen als vollständige Person zu akzeptieren und auf dem Spektrum zu leben - ohne Aussicht auf "Heilung".

In Ihrem Buch "Aspergirl" (ich finde den Titel auch nur so semi.) beschreibt Rudy Simone sehr gut, warum bei mir seit der Diagnose im Spätsommer 2018 so viel Zeit vergangen ist, bis ich es überhaupt jemandem erzählt habe. Sie nennt das Phasen - insbesondere bei Aspergern, die erst im Erwachsenenalter davon erfahren.

  • Wahrnehmung: Man beschafft sich Informationen, ohne sie zu verinnerlichen und sucht ggf. nach Diskrepanzen
  • Wissen: Die Erkenntnis, dass man Asperger hat, setzt sich fest.
  • Bestätigung: Die Diagnose erklärt vieles im Leben, vor allem Dinge, die man nie ganz verstanden hat. Muster, die einen schon das ganze Leben begleiten.
  • Erleichterung: Es kommt an, dass man tatsächlich "anders" ist, ohne an etwas "schuld" zu sein.
  • Sorge: Was wird das für die Zukunft bedeuten?
  • Wut: Über die Fehldiagnosen, über die vergeudete Zeit, die gemachten Fehler.
  • Akzeptanz: Stärken und Schwächen werden bewusst, der Umgang damit klarer.

Nach über einem halben Jahr habe ich vielleicht die Hälfte davon durch. Hovering around "Erleichterung". Einer der ersten Sätze nach dem die Diagnose ausgesprochen wurde, war, dass es jetzt zu einer Art Verschlimmerung kommen könnte, dass abtrainierte Verhaltensweisen wieder zu Tage treten und ich eine Weile größere Wahrnehmungsschwierigkeiten haben könnte.

Aber doch nicht mit mir! War wohl zumindest der Gedanke. Ich streifte den Begriff ab, noch bevor ich ihn verstanden hatte und tat ein Vierteljahr so als wäre nichts. Da war ein Graben zwischen mir und meinem Bild von einer Autistin. Ich hatte doch nicht zwanzig Jahre lang auseinander codiert welcher Teil meine Persönlichkeit und welcher Teil meine Depression war, nur um festzustellen, dass das Problem noch viel größer ist. Pah! Ein einziges Mal formulierte ich die neue Information und das in einer Email, die vermutlich nie gelesen wurde. Ein paar Anspielungen hier und da, irgendwas mit Spektrum und höhö, aber bloß keine Positionierung.

Lernen, wer man ist

Natürlich, ich habe gelesen was es zu dem Thema gibt (nicht viel, wenn es um erwachsene Frauen geht) und immer wieder gab es diese Momente, in denen etwas beschrieben wurde und ich zum ersten Mal das Gefühl hatte, das jemand nachvollziehen kann wie es ist, ohne Handbuch durchs Leben zu kommen. Ein Handbuch, das offensichtlich alle anderen bekommen hatten.

Nach und nach kamen dann die Erinnerungen, die Momente in denen ich so offensichtlich befremdlich auf andere Menschen gewirkt haben muss, dass ich daraufhin mein Verhalten geändert habe. Die Literatur, meint meine Psychologin, war vielleicht meine Rettung. Sie hat mich nicht nur Sprache, sondern auch Ironie und Mehrdeutigkeit gelehrt. Dinge, die für Asperger-Menschen keine einfachen Konzepte sind.

Vier Monate nach der Diagnose kam es schließlich in meinem Kopf an. Sehr vorsichtig und in kleinen Dosen, manchmal geradezu in Nebensätzen, versuche ich jetzt meiner Umgebung beizubringen was das heißt. Und lerne dadurch noch mehr, was es für mich bedeutet.

Der wirklich schwierige Teil ist, dass ich mein komplettes Leben durch einen anderen Filter betrachten muss. Es mag eine Variante von mir ohne Depressionen existieren, aber eine "normale" - neurotypische - Version meiner Persönlichkeit hat es nie gegeben. Alles was ich bis hierher erlebt habe, woran ich gescheitert bin, was ich nicht verstanden habe - das lag womöglich weniger daran wie unfair und gemein alle waren (obwohl sie das vereinzelt wirklich und nachweislich waren), sondern eben auch daran, dass ich menschliches Verhalten, soziale Interaktion sehr viel weniger und sehr viel langsamer begreife als so ziemlich alles andere auf der Welt.

Es stellt sich raus: Ich erkenne was Menschen meinen und wollen noch viel weniger als ich dachte. Ich weiß überhaupt weniger als ich dachte. Auch über mich. Darum bis hierher nur soviel: Ich bin Autistin, da müssen wir jetzt alle erstmal mit klar kommen.

Und damit sind wir beim Einstiegs-Statement dieses Eintrags angekommen (die Älteren erinnern sich): Obwohl mir klar war, dass ich mich "outen" sollte, weil ich auch alle anderen prägenden Aspekte aus meinem Leben online zumindest in einem gewissen Rahmen offen darstelle, habe ich immer wieder gehadert, ob es diesen Eintrag geben sollte. Fast drei Monate habe ich daran geschrieben, geändert oder ihn in Frage gestellt. So viele meiner Kontakte, meiner Interaktionen finden hier im Netz statt und fielen diese weg, ich wäre endgültig ein isoliertes Alien. Ich bin immer noch ich. Die sarkastische Irre mit der Axt, dem Gin Tonic in der Hand und dem losen Mundwerk. Bitte ergreift nicht alle gleichzeitig die Flucht. Vielleicht könnt ihr euch ja absprechen?

Ich fange zwar an zu verstehen warum ich das bin und, dass ich diese Persona auch als Schutzanzug trage. Aber ich möchte nicht auf die Freude verzichten, die ich erlebt habe, weil es sie gibt. Ich kann und will niemandem sagen, dass man mich nun anders behandeln soll, muss, kann. Was weiß ich schon - ich schlage mich mit dem Thema auch erst seit Kurzem rum. Wenn überhaupt, dann ist es wohl eine Erklärung für manches Verhalten mit dem ich seit einigen Jahrzehnten Menschen vor den Kopf stoße. Das gute an uns Aspergern ist aber: Wir kennen keine falsche Höflichkeit, es gibt keine zu direkten Fragen und wir nehmen oft nicht mal Dinge persönlich, die so gemeint sind. Im Gegenteil: Je präziser formuliert, desto besser - das gilt auch für Kritik.

Ob ich alle Fragen beantworten kann, weiß ich nicht, aber ich werde es versuchen. Ich bin weder eine unicorn-colored-snowflake noch ab jetzt Aktivistin. Ich will, das ist ein bisschen die Tragik meines Lebens, dasselbe was alle wollen, nur, dass es für mich wesentlich komplizierter ist.

P.S.: Wer ein bisschen in das Thema einsteigen will, ohne gleich von Wissenschaft und Verhaltensregeln erschlagen zu werden, dem würde ich jederzeit Steve Silberman in die Hand drücken.

P.P.S.: Ich habe diesen Text auch und gerade wegen der Debatte um Greta Thunberg online gestellt. Weil mir die Berichterstattung über sie schmerzlich vor Augen geführt hat, wie massiv der Unterschied zwischen meiner relativ aufgeklärten Online-Bubble und der Allgemeinheit noch ist. Wann auch immer ich diese mutige junge Frau gesehen habe, konnte ich ihre Herangehensweise und ihre Klarheit vollkommen nachvollziehen. Sie hat ein Thema für das sie leidenschaftlich eintritt und sie versteht wahrscheinlich viele der um sie geäußerten Hinterhältigkeiten gar nicht komplett. Da ist ein Problem und niemand ist aufgeregt genug, um es zu lösen, also redet sie darüber. Sie verhält sich logisch, nicht möglichst auffällig. Für neurotypische Menschen ergibt das oft keinen Sinn, denn Aufmerksamkeit ist eine eigene Währung. Ich war immer zu laut, habe zu sehr auf Dinge gepocht, besonders wenn es um Ungerechtigkeiten ging. Dabei hatte ich gar nicht den Drang im Mittelpunkt zu stehen und habe mir immer nur gewünscht, dass ich nicht allein mit meiner Empörung bin. Vielleicht müssen noch viel mehr von uns den Hang zu Monologen, die fehlende Wertschätzung von sozialen Normen und unsere Andersartigkeit nutzen, um Lärm zu machen. Vielleicht ist es nicht einfach eine Diagnose, sondern ein Wegweiser.

Allgemein

umpflanzen

„Wenn ich das entsprechende Talent hätte, ich hätt‘ Schreiner gelernt.“, höre ich mich am Wochenende sagen. Der unverschämte Sonnenschein hat mir Energie eingeflößt und neben allgemeinem Aufräumen und Einkaufen schaffe ich auch noch ganz locker die Grundreinigung vom Balkon plus Tomatenanzucht. Nach der Grippe und zwei Bürotagen aus der Hölle möchte ich meine Zeit mit Möbelaufbauen, Erde umfüllen und Dinge wegwerfen verbringen. Wäre ich besser mit Menschen, ich wäre eine MariKondo geworden, bewaffnet mit Etikettiergerät, alphatebischen Registern und Müllbeuteln. Mein Problem ist nie das Aussortieren, sondern das fachgerechte Wegwerfen/ Weiterveräußern. Again: Die Sache mit den anderen Menschen.

Ich kaufe Tulpen, es gibt Käsekuchen. Käsekuchen muss noch warm sein.

Die neue Woche bekomme ich nicht zu fassen, sie entzieht sich mir wo sie kann. Ob im Büro oder in der Kommunikation mit Anderen, es ist, als wären alle auf einem Rave und ich möchte aber Bach hören. Vorsichtiges Herzfassen und jemanden fragen, der sich mit einer bestimmten Sorte auskennt. Planungen für kleine Fluchten. Schließlich: Ach ja richtig, zuletzt hab ich es mit dem Sport ein bisschen schleifen lassen. Eine Grippe will do that to you. Als ich auf der Yogamatte liege und absichtlich in irgendwelche Bereiche hineinatme klärt sich mein Blick ein wenig.

Während ich mich aus der Kobra strecke, lache ich mich selber dafür aus, dass ich mir wegen einer anstehenden vielleicht stattfindenden Begegnung Sorgen mache. Als könnte ich etwas daran ändern.  Contenance ist eh immer schon für die anderen gewesen.

Geändert wird ohnehin, was sich ändern lässt. Da muss auch die Konzentration hin.

Die Kräuter auf dem Balkon wurden gerade erst von der schützenden Folie befreit, wollen aber dafür jetzt ständig Wasser. Mehr, noch mehr. Gib mir Stoff, ich kann die Sonne sehen, hier geht was mit dem Wachstum. Ich will auch wachsen.

Vorsichtshalber – man hat ja was gelernt – schicke ich das Bauchschmerzthema schon mal in die Welt hinaus und arbeite an meiner Atmung. Mal sehen wie lange die Rüstung hält. Der Ärger darüber, dass ich mir hochnotpeinlicherweise darüber Gedanken machen bzw. andere fast schon vorwarnen muss, obwohl ich versucht hatte einen anderen Status Quo zu erreichen, begleitet mich aber durch den Rest der Woche. Sagt einem auch kein Therapeut, dass alle erlangten Fähigkeiten und Erkenntnisse manchmal nix nutzen, wenn man vorher den Fehler gemacht hat einer lausigen Performance auf den Leim zu gehen.

So schwer ich mich mit Veränderungen tue, aktuell gehen sie mir nicht schnell genug, nicht mal annähernd. Vielleicht komme ich jetzt in das Alter wo die ganz kurzfristigen Sachen aber auch einfach nicht mehr tragen. Ein Plan muss her. Mehrere, wohl eher. So wie man mehr als einen Samen einsetzt, damit was draus wird. Oh je, Gärtner-Metaphern. Kein gutes Zeichen.

Das linke, untere Augenlid hört nicht auf zu zucken. Ja ja, ich weiß, ich bin dabei.

https://www.youtube.com/watch?v=VsVMKuG8QZU

Huch, Dido ist wieder da.

Fragen 601-625

601. Worauf achtest du bei jemandem, dem du zum ersten Mal begegnest?

Ich bin niemand der auf bestimmte Dinge achtet, mir können nur Sachen negativ auffallen. Jaja, ich weiß.

602. In welcher Hinsicht könntest du etwas aktiver sein?

Fast jeder. Wobei. Öfter die Schnauze halten, leiser sein und stattdessen.... hm, etwas tun. Anything.

603. Spielst du in deinem Leben die Hauptrolle?

Ja, wobei es beginnt sich anzufühlen, als wäre ich eigentlich nur der Erzähler. (Reader: She was confused.)

604. Welcher Lehrer hat einen positiven Einfluss auf dich gehabt?

Frau Schm. Mit dem simplen Satz „Du musst doch schreiben.“, als es um meine Zukunftsplanung ging.

605. Was würdest du am meisten vermissen, wenn du taub wärst?

Musik, doch, ja.

606. Über welche Nachricht warst du in letzter Zeit erstaunt?

Wir schreiben das Jahr 2019, niemand hat mehr die Kraft überrascht zu sein.

607. Wärst du gern wieder Kind?

Nein, oh gott, bloß nicht, niemals.

608. Was kannst du stundenlang tun, ohne dass es dir langweilig wird?

Mir wird nicht langweilig, ich habe ja diesen Kopf in dem ständig der Teufel los ist. Die Zeit vergessen kann ich beim Dinge sortieren.

609. Wann warst du zur richtigen Zeit am richtigen Ort?

Was mich bis heute verblüfft: Als ich im Herbst 2002 in stationärer Behandlung war, hatte die Zimmergenossin eine Frauenzeitschrift dabei in der ich blättern durfte. Zu einem fürchterlichen Bericht über junge Asiatinnen, die sich unter Schmerzen die Beine verlängern lassen, stand in einer Infobox ein Hinweis auf einen deutschen Arzt, der eine neue Methode für die Korrektur und Verlängerung von Extremitäten gefunden hatte. Es dauerte danach noch ein Jahr, aber genau dieser brillante Chirurg reparierte mein Bein samt Fuß und Zehen. Anders hätte ich heute noch nicht von ihm gehört. (Which is a whole ‚nother problem.)

610. Denkst du oft darüber nach, wie Dinge hergestellt werden?

Als ich vor kurzem ein Regal zusammengebaut habe, konnte ich 10 Minuten begeistert über die neue, bereits im Brett eingelassende Verschraubung des mittleren Bodens reden. Ja, doch, schon.

611. Welchen kleinen Erfolg konntest du zuletzt verbuchen?

Ich konnte zuletzt mehrere drastische Impulse unterdrücken. (Reader: She was wrong.)

612. Wirst du am meisten jünger oder älter geschätzt?

Es kippt gerade, weil dieses Gesicht schon so lang so aussieht. Schon als Teenager ging ich als Mittzwanziger durch. Jetzt, wo ich mich Mitte 30 nähere, gehe ich wohl noch für Ende 20 durch. So I’ve been told.

613. Wann hast du zuletzt Sand zwischen den Zehen gespürt?

Letzten Sommer, am Chiemseestrand.

614. Welchen Beruf haben sich deine Eltern für dich vorgestellt?

Nix konkretes,  Hauptsache ich gehe lange zur Schule, fülle meinen Kopf mit möglichst viel Zeug und zettele irgendwann eine Revolution an.

615. Welches Gerät von früher fehlt dir?

Hä?

616. In welcher Hinsicht denkst oder handelst du immer noch wie ein Kind?

Ich kann Konflikte nicht nicht austragen. Gras über Dinge wachsen lassen ist für weitaus erwachsenere Menschen als mich. Und ab einer gewissen Eskalationsstufe debattiere ich auch nicht vernünftig, sondern brülle und zerstöre. Nicht oft. Aber…nun.

617. Heilt die Zeit alle Wunden?

Haha. Nein.

618. Bist du romantisch?

Das ist so ein Begriff, von dem ich kaum noch eine Vorstellung habe. Ich kann Aufmerksam sein, ich überrasche Menschen auch gern mit Dingen. Aber dieser Symbol-Quatsch liegt mir nicht.

619. Was würdest du deinem jüngeren Ich mit auf den Weg geben?

Triff nie, nie niemals Entscheidungen für dich in Abhängigkeit von anderen Menschen. Auf gar keinen Fall.

620. Was machst du mit Souvenirs, die du bekommen hast?

Größtenteils in sehr hübsche Schächtelchen packen und wegräumen. Ähem. Deko ist nicht meine Stärke.

621. Von wem hast du vor Kurzem Abschied genommen?

Von der Idee, dass alles wieder gut werden könnte.

622. Bist du (oder wärst du) eine Jungenmutter oder eine Mädchenmutter?

Ich, äh…was?

623. Hast du schon mal individuelle Ansichtskarten gestaltet?

Das klingt nach Basteln. Nein, ich bin Bastelverweigerer.

624. Wir würde dich deine Familie beschreiben?

Sie nennen mich kopfgesteuert, weil ich Listen und Pläne mag. Nun.

625. Wonach suchst du deine Kleidung aus?

- muss passen

- darf mich nicht anschreien

- ist kombinierbar und muss nicht gebügelt werden

Allgemein

out of order

Mal abgesehen von der fehlenden Disziplin: Was machen Tagebuchblogger, wenn sie krank sind und nur hustend rumliegen? Das war nämlich meine letzte Woche. Mittwochmorgen hielt ich das noch für den Muskelkater aus der Hölle, woraus im Laufe des Tages aber einfach die schlimmsten Gliederschmerzen meines Lebens wurden. Soviel zu 6 Wochen Sport am Stück. Also Krankmeldung, bei der Ärztin vorbei („Ich fühle mich, als hätte mich ein 30-Tonner überfahren.“ ‚Ja, sie bleiben jetzt mal Zuhause.‘), auf dem Weg zur Apotheke löst sich die Handtasche in ihre Einzelteile auf, isklar, und ich hieve mich wie eine dreimal so alte Frau am Ende in den zweiten Stock hinauf, um die Wohnungstür aufzumachen.

Es folgten Husten, Kopfweh und mein Kreislauf ergriff  fürs erste die Flucht.

Also keine Kinoverabredung, kein zugesagtes Regalaufbauen, stattdessen unsagbar viel Schlaf (so, so viel Schlaf), ein bisschen lesen, ein bisschen Netflix und viel Gedanken kreisen lassen. Das geht mit und ohne Kopfschmerzen.

Mama und Schwester Donnerhall drängen mir förmlich ihre Hilfe auf, obwohl ich so gut wie nichts brauche. Andererseits: So ein Netzwerk in direkter Nähe, schon gut. Die beste kleine Schwester von allen bringt im Laufe der Woche selbstgemachte Suppe und ich bin mal wieder erstaunt, was für eine fabelhafte Frau dieses terroristische kleine Chaos-Wesen aus meiner Kindheit geworden ist. (Liebe Eltern: There’s hope!)

Ich lese zum zweiten Mal, wie Lin Manuel Miranda Hamilton geschrieben hat, überhaupt, mal wieder etwas schreiben, das wäre gut. Beim Verplanen der Steuerrückerstattung räume ich gedanklich einen Betrag für neue Balkonmöbel zur Seite, um die Sommerabende dort loungend und schreibend verbringen zu können.

Beim Blick auf den Kalender stelle ich leicht verdattert fest, bei wie vielen Gelegenheiten mich Menschen dieses Jahr dabeihaben wollen. Geburtstage, Hochzeiten, Hochzeitsjubiläen. Etwas krallt sich um mein Herz bei dem Gedanken daran, dass ich seit der Grundschule nie mehr jemand war, den man zu etwas eingeladen hat. (Obwohl ich FUCKING DELIGHTFUL sein kann.)

Zu Anfang der neuen Woche geht der Blick dann aus dem Fenster, weil die Sonne rauskommt und mit dem Inn fangen spielt. Komm Frühling, komm fang mich. In der kleinen Stadt am Inn sitzen die Menschen sofort wieder draußen vor den Cafes und reden darüber, dass es zu wenig Cafes gibt. Was stimmt, weil das Obermayr mit den Kuppeltorten zugemacht hat und eines wird renoviert, die Eisdielen sind noch zu und jetzt bekommt man am Wochenende in der Altstadt an grade noch 4 Stellen ordentliche Torte. Wenn man in der Backstube mit der hervorragenden Schwarzwälder Kirsch am Wochenende Kaffeetrinken will, sollte man reservieren. Die Lage ist ernst. Aber die Sonne sagt, dass bald die Magnolien wieder blühen und die Eisdielen aufmachen und man mit seinem Kaffee und der Torte wieder quer durch die ganze Hofstatt verteilt sitzen kann.

Oder eben auf einem Balkon.

Aber noch liegt Schnee, noch ist Krapfen-Saison. Ich esse Suppe und gucke auf Netflix „Black Earth Rising“. Ruanda ist eines dieser furchtbaren Geschehnisse um das ich theoretisch weiß, aber das zu nah für den Geschichtsunterricht und zu weit weg für Sozialkunde passiert ist. Außerdem in Afrika. Was weiß ich schon über Afrika. Immer zu wenig. Womit ich sagen will: Das lohnt sich anzuschauen, es ist kein blutrünstiger Kriegs-Mehrteiler, sondern eine Studie über die Aufarbeitung, über die Generation danach.

Ende der Woche schleiche ich zurück ins Büro, mitten ins Getümmel, High Noon an allen Fronten überhaupt High Noon, ganz offiziell.

Wie zur Gegenwehr kann ich nicht aufhören dieses Lied zu summen. Eine große, dramatische Ballade, eine Anklage. The boy’s got pipes.

Bad habit, I know
But I'm needin' you right now
Can you help me out?
Can I lean on you?
Been one of those days
Sun don't wanna come out
Can you help me out?
Can I lean on you?

https://www.youtube.com/watch?v=YSrP6cF1gf8

Fragen 576-600

576. Was versucht du zu vermeiden, weil du Angst hast?

Unsicheren Untergrund. Meta- als auch Physisch.

Und den Fehler Leute wissen zu lassen, wenn ich gekränkt bin, mach ich auch nie wieder. People are the worst.

577. Was ist deine neueste harmlose Leidenschaft?

Pilates. (Wobei Flutter Kicks nicht wirklich harmlos sind.)

578. Was würdest du auf dem roten Teppich tragen?

Ein mörderisches Ballkleid, Diamanten im Wert des Bruttosozialproduktes mehrere Kleinstaaten und die längsten falschen Wimpern, die sich auftreiben lassen.

579. Wie geht es dir wirklich?

Ich denke zu viel über Dinge nach, über die ich hinweg sein sollte. Ich zweifle manchmal an meinen Ambitionen. Ich hab keine Lust darauf die Welt alleine zu erkunden. Manchmal würde ich gern irgendetwas exzessiv machen, um zu wissen, ob man sich dann lebendiger fühlt.

580. Worauf hast du zuletzt schweren Herzens mit Nein geantwortet?

Ein sehr spezifisches Therapieangebot. Es wäre auch die Entscheidung zu einem neuen Label, einer Schublade gewesen. Da kann ich noch nicht rein.

581. Wie kannst du es dir selbst leichter machen?

Akzeptieren, loslassen. Vielleicht Drogen.

582. Worum weinst du insgeheim?

Um die Erkenntnis, dass ich vermutlich den Rest meines Lebens allein bleiben werde.

583. Hast du jemals einen Liebesbrief geschrieben?

Es gab mal etwas, das waren eigentlich nur Abschiedsworte, aber vielleicht war da auch etwas mehr.

584. Hast du jemals einen Liebesbrief erhalten?

Ich glaube nicht. Zu früh ins digitale Zeitalter gerutscht.

585. Spendest du regelmässig für einen guten Zweck?

Yo. Ärzte ohne Grenzen und das Münchner Kinderhospiz. Woran halt so denkt, wenn man eines von diesen Kindern war, dem immer irgendwas exotisches fehlte.

586. In wie vielen Weltstädten bist du gewesen?

„Städte von überragender weltweiter Wichtigkeit„ sagt Wiki. Aha. Dann vermutlich bloß 5, vielleicht 7. Da bräuchte ich jetzt eine klarere Definition.

587. Welchen Modetrend von früher findest du heute lächerlich?

Ich bin in den 90ern aufgewachsen. Also alle.

588. Ist deine Grundeinstellung positiv?

Nein.

589. Wie reicht wärst du gern?

Nicht mehr arbeiten müssen. Ein großes Haus für mich und alle die einen Platz brauchen besitzen. Bisschen reisen, alle Bücher kaufen, die mich interessieren. Alles, was über ein paar Millionen ginge, würde ich spenden. Vielleicht eine eigene Stiftung, um auch was sinnvolles zu tun zu haben.

590. Darf man lügen, um jemanden zu schützen?

In Abhängigkeit dessen wovor geschützt wird: Ja.

591. Was hast du in letzter Zeit gebraucht gekauft?

Platten.

592. Was ist als Kopie besser als das Original?

Ich glaube ja, wenn es so viel besser ist, ist es sein eigenes Original.

593. Hörst du gut auf deinen Körper?

Naja.

594. Von welchem Beruf weisst du nicht, was man da genau macht?

Manager. Produzent. Vorstandsmitglied.

595. Was stimmt nicht, wenn du dich jetzt umschaust?

Der Ort, die Zeit, die Verfassung.

596. Was wünschst du dir für die Menschheit?

Weniger Ungerechtigkeit.

597. Gehst du unter die Leute, wenn du dich allein fühlst?

Um Gotteswillen nein. Im Gegenteil. Herrje. Oh Gott. Furchtbar.

598. Welche Droge würdest du gern ausprobieren, wenn sie legal wäre?

Ich finde das Konzept Micro Dosing sehr spannend, gerade im Bereich LSD.

599. Wann hattest du zuletzt Schmetterlinge im Bauch?

Äh… Das muss wahnsinnig lang her sein.

600. Wie oft schaltest du dein Telefon aus?

Meistens so einmal in der Woche, wenn ich das Gefühl hab es wird langsamer. Oder ist hier für länger gemeint? Nee.