Dr. Strangetweet , oder – wie ich lernte die Hysterie zu lieben

Momentan ist Fastenzeit. Jedenfalls, wenn man noch so einen Rest Katholizismus in den Blutkörperchen hat. Und mittlerweile ist es ja sehr beliebt, digital zu fasten. Kein Facebook oder kein Twitter, weniger Emails checken oder sowas in der Richtung.

Das klingt auf den ersten Blick wahnsinnig vernünftig. Ich erwische mich viel zu oft dabei, wie ich auf mein Handy schaue oder selbst irgendwo etwas poste. Andererseits kann ich mir mein Leben, ohne all diese Kanäle schlicht nicht mehr vorstellen.

Zwar schaffe ich es, nur noch 2x am Tag meine Emails wirklich zu bearbeiten – ich sehe aber wesentlich öfter in meinen Posteingang, um zu entscheiden was dringend ist. Meinem Feedreader widme ich mich einmal morgens und einmal abends – das muss langen. Facebook sieht mich nur noch sehr selten – was aber auch daran liegt, dass Klienten wie Tweetdeck das sehr schön integrieren.

Bliebe Twitter. Tja. Guilty as charged. Manchmal verstricke ich mich dort in derartige Konversationen/Streitereien, dass ich kaum merke wie die Zeit vergeht. Und dann all die Links und Bilder, die es dort zu sehen gibt! Schlimm.
Bis man daran erinnert wird, warum Twitter so großartig ist.

Twitter ist der größte Dorfplatz der Welt. Ratschen ist auch Informationsaustausch

Ich hatte grade das Teewasser zum Frühstück aufgesetzt und dabei einen Blick in meine Twitter-Timeline geworfen. BUMM.
Ich lasse alles stehen und liegen, mache den Fernseher an, um mich zu vergewissern. Doch, da war die Welle. Die Nachrichten. Die Katastrophe. Ohne Twitter hätte ich erst Stunden später etwas davon mitbekommen. Ohne Twitter hätte ich weniger zum Thema gelesen, weniger gesehen und würde vorallem weniger wissen.
Denn in diesen Momenten läuft Twitter zu Höchstform auf – es ist wie eine Wasserleitung an Informationen.
Am ersten Tag: Videos, Tweets aus Japan, erste Möglichkeiten um zu helfen.
Am zweiten Tag: Artikel, Bilder, erste Hinweise auf die Auswirkungen auf die AKW in Japan. Im Laufe des Tages unterschiedliche Meldungen. Der japanische Sender NHK meldet anderes als die japanische Regierung. Die Atom-Welle beginnt zu rollen. Im Laufe des gestrigen Tages dann viele viele Meinungen und Ansichten. Darunter hysterisches Gebrabbel, zynische Kommentare und hin und wieder sogar etwas Vernünftiges. Auf alle Fälle genug, um die eigenen Gedanken arg durcheinander zu wirbeln. 1

Werfe ich in solchen Zeiten eine Frage in den Raum bekomme ich mindestens eine Antwort. Und vermutlich genug Material um mir fünf neue Fragen zum Thema zu stellen.

Hier zeigt sich, dass der Aufwand und die Zeit es eben doch Wert sind. Als ich mir vor zwei Jahren einen Twitter-Account zulegte, fand ich das alles doch recht unübersichtlich. Seinerzeit noch mit Public Timeline.
Der wirre Prozess des Follower und zu Folgenden suchen und finden lässt sich nicht strukturieren oder bewerten. Außerdem endet er nie. Manchmal folgt man jemandem nur eine Weile, eines Themas wegen. Oder entfolgt eben wegen den Tweets zu einem Thema. (Wenn unser alter Verteidigungsminister wüßte, welche Fehden er auf Twitter angezettelt hat…!)

Es gibt die Prominenten, denen man als braves Fangirl folgt. Oder die Medienschaffenden – aus Interesse. Dann findet man vielleicht ein Thema und darüber gleich ganze Gruppen von Diskussionspartnern. Durch meine Fußballleidenschaft habe ich geschätzte 70% meiner Timeline gefunden. Um mit ihnen heute auch über alles abseits des Fußballs zu diskutieren.

Natürlich zieht Twitter dadurch einen größeren Anteil meiner Aufmerksamkeit auf sich. Nirgendwo lässt es sich so schön prokrastinieren. Die Timeline begleitet einen auch auf der Zugfahrt und auf einen Ausflug. 2
Dort muss ich mich mittlerweile zusammen reißen, nicht alle paar Stunden aufs Display zu schauen. Aber es klappt – zumindest bei den Menschen die mir wichtig sind. Oder bei Dingen, die meine Aufmerksamkeit wirklich fesseln. (Ist ein schöner Indikator wie gut ein Film ist. Wie lange danach schaue ich in die Timeline?)
Es ist – natürlich – eine Frage der Balance. Diese Balance ist an „normalen“ Tagen kein größeres Problem. Und selbst, wenn es beim geliebten Fußballverein hoch hergeht und man irgendwo Trost finden will, lässt es sich regeln. Katastrophen, so merke ich grade, sind eine andere Sache.
Nach dem 11. September konnte ich eine Weile nicht ohne Nachrichten ins Bett. Ich wollte mir sicher sein, dass die Welt in Ordnung ist, bevor ich schlafe. Heute stelle ich einen ähnlichen Effekt mit Twitter fest. Ein letzter Blick in die Timeline – ist etwas neues passiert? Erwache ich morgen vielleicht schon ein einer anderen Welt?

Dann schüttele ich den Kopf und frage mich, ob es jetzt nicht zu weit gegangen ist. Ob ich nicht auch mal Pause machen sollte. Damit der digitale Teil des Lebens nur ein Teil bleibt, nicht alles.
Aber der Informationsvorsprung den mir Twitter verschafft, die großartigen Unterhaltungen und das Entertainement sind es wert, dass Menschen mir gegenüber manchmal die Stirn runzeln, wenn ich wieder in mein Handy hinein grinse.

  1. Wodurch ich letzendlich nur noch eine Meinung zu dem ganzen Atom-Ding habe. Nämlich: Ja, wir sollten aussteigen. Aber ein deutscher Ausstieg allein bringt nichts, wenn Resteuropa fröhlich Neue baut. Also muss eine EU-Lösung her. Europa muss gemeinsam aussteigen. Die alten und maroden Reaktoren zuerst. Strombedarf wird untereinander ausgeglichen. Dann sehen wir weiter.
  2. Was Ausflüge mit anderen Twitterern so toll macht. Die leiden an derselben Krankheit und man kann gemeinsam beim Kaffee ins Smartphone starren, während man sich die Neuigkeiten aus der Timeline vorliest.
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