Still fighting – 20 Jahre „Stripped“

Es ist Herbst 2002. Die Erinnerungen sind ein bisschen trübe, aber das müsste das Knacks-Jahr gewesen sein. Knacks heißt, nach 4 Jahren Realschule unter härtesten Bedingungen, suizidal und allein, ist die Kraft zu Ende. Im Nachhinein sind die Prüfungsleistungen eine sehr hübsche Metapher. In Mathe und Rechnungswesen von Tendenz 5 auf 4 korrigiert und dafür in Deutsch und Englisch die Steilvorlagen zur 1 verwandelt. Ich starte zwar noch ins Jahr auf der Fachoberschule, aber dann kam der Platz in der Psychosomatischen Klinik und ich verbrachte meinen Spätsommer in einer Einrichtung in Niederbayern, mit Gruppentherapie und Erkenntnissen. Schicksalshaft sollte ich dort in einer Frauenzeitschrift über den Artikel stolpern, in dem eine Beinverlängerungsmethode ohne Fixateur und der Arzt der sie erfunden hat, beschrieben werden.

Nach 6 Wochen Klinik habe ich eine Telefonnummer für den brillanten Prof. Dr. med. Dipl. Ing., der sich 15 Monate später dem Fuß annehmen wird und das dumpfe Gefühl, dass ich auf die Dauer nicht in das dunkle Dorf im Chiemgau zurückkehren kann, wo der kurze Horizont der meisten Einheimischen dazu führt, dass ich noch einsamer bin als sonst schon. Als ich das später meiner Therapeutin erkläre, strahlt sie und sagt “Na endlich.”

Dass ich bis dato überhaupt am Leben geblieben war, hatte viel mit meiner ersten Clique aus Internet-Freundinnen zu tun, einem Rudel aus höchst unterschiedlichen jungen Frauen, die sich über wilde Leidenschaften für Musik, Bücher und Filme gefunden hatten. Und Fanfiction, aber das ist ein ganz anderer Blogeintrag. (Foren, Chats, die jungen Leute wissen ja gar nicht mehr wie das zu ISDN-Zeiten war!)

Wir haben uns Mixtapes auf CD gebrannt und dauernd mit fieberhaftem, religiösen Eifer gegenseitig Dinge empfohlen. N. brachte Alternatives, skandinavische Dunkelheit und Schrammelgitarren mit (wir hörten beide Nirvana und empfanden uns als entsprechend alte Seelen). A. war die Romantikerin, die uns Songwriterinnen und Lyrik näherbrachte. Ich war gerade dabei mich über India.Arie, Jill Scott und Alicia Keys neu zu definieren. (Mir ist, als hätte ich auch allen Norah Jones aufgedrängt, gerade noch kurz bevor sie quasi aus dem Nichts untefähr 300 Grammys für “come away with me” gewann und überall war.) Obwohl C. die resident Punk und Stadionrock-Expertin war, bilde ich mir ein, dass sie damals das Album mitgebracht hat. Sie hatte ja auch schon einen richtigen Job und einen Mann und war uns überhaupt in Meilensteinen voraus. Zumindest existiert in meinem Kopf das Bild, wie wir bei N. in ihrem Dachboden-Zimmer sitzen und uns durch mitgebrachte CDs hören.

Jedenfalls, dear Reader, zur Orientierung: MTV war damals noch a thing. In dem September war dem zweiten Album einer Künstlerin eine erste Single vorausgeeilt und zwar mit Ansage: Der Genie ist aber mal sowas von aus der Flasche. Aus Christina Aguilera war Xtina geworden, mit risque Fotoshoot, rotzigen Interviews und ganz generellem Getöse. Sie war halt auch 21, hatte jetzt Piercings und war nicht zu unrecht der Meinung, dass sie eh besser singen kann als die anderen Pop-Mädchen und, dass das jetzt alle hören sollten. (Im Jahr davor hatte die Welt mit “Lady Marmalade”, dem Brecher-Song zu Moulin Rouge schon einen Teaser bekommen.)

Albumcover von "Stripped", Christina Aguilera

Anyway, wo waren wir? Das Knacks-Jahr war in Sachen Musik ein formendes (gucken Sie bei Zeiten mal was da alles raus kam, Escapoloy von Robbie, Phrenology von den Roots, Heathen von Bowie, Full Moon von Brandy, Debut-Alben von Norah Jones, the Streets, Black Rebel Motor Cycle Club und Interpol.) Aber keines haut bis heute so rein wie Stripped. In völliger Klarheit darüber wie uncool, rufschädigend und generell anstrengend das jetzt wird, bekommt die Platte darum pünktlich zum 20. Geburtstag die notwendige Würdigung. Song für Song. Interludes und alles. Wer bis jetzt schon dachte, ich wäre nabelschau-affin, we’re gonna go so much deeper, buckle up.

Hier der Link zur Album-Playlist auf Youtube

Stripped (Intro)

So here it is
No hype, no glass, no pretense
Just me
Stripped

Lyrics, Christina Aguilera.

2002 waren Konzeptalben gerade völlig out, es musste ja auch alles auf eine CD passen. Kleine Spielerein, versteckte Songs oder Interludes – sowas machten nur noch die Bands, die Väter hören. Mir doch egal sagt Christina und gibt ein Mission-Statement ab. Das Album beginnt mit einem Mix aus fremden Stimmen, Carson Daily, Fred Durst, Reporterinnenzitaten zum angeblichen Beef mit Britney. Wir starten also mit einem Eff You. Mal ganz abgesehen davon, dass man heute erst recht nochmal anders auf die schizoide Bewertung von weiblichen Popstars in den frühen 200ern schaut, weiß bis heute fast jede junge Frau wie es ist, sich von Gerüchten und Kommentaren verfolgt zu fühlen. Ob Schulhof oder Instagram. Die folgenden 19 Songs sind auch ein Tagebucheintrag.

Can’t hold us down (Feat. Lil‘ Kim)

Call me a bitch cause I speak what’s on my mind
Guess it′s easier for you to swallow if I sat and smiled

20 Jahre später und was soll man sagen? Das ist immer noch in Arbeit. Ich weiß nicht, ob ich mich mit 17 schon Feministin nannte. Ich wusste theoretisch, dass Dinge faul sind, gerade was die unterschiedliche Wahrnehmung von sexueller Freiheit zwischen den Geschlechtern angeht. Aber ich dachte auch, ich könnte mich mit Leistung und Argumenten immer durchsetzen. Darum ist der Song mit dem rollenden Beat und der Godmother des Pussy-Rap Lil’Kim vielleicht auch mehr darauf ausgerichtet, es war das offensichtlichere Problem. Slut-Shaming, jedes Dorf hatte eine „Matratze“ – während das Modediktat Freiluftnabel, Skinny-Alles und generelle optische Verfügbarkeit gegenüber dem männlichen Geschlecht vorgab. Es ist kein Wunder, dass wir older Millenial-Frauen alle ein bisschen am Rande der geistigen Zurechnungsfähigkeit oszillieren, wie denn bitte nicht?

Walk Away

I’m about to break
I can’t stop this ache
I’m addicted to your allure
And I’m fiendin‘ for a cure

Vielleicht der Song, den ich heute am stärksten anders bewerte, wo plötzlich Alarmglocken angehen. Das Arrangement mit dem Jazz-Klavier und einem Bass, der einen dunklen Unterton ankündigt, funktionieren wie der Score zu einer unheimlichen Geschichte. Darüber erzählt Christina mit seufzender, später klagender Stimme, dass sie da in etwas festhängt, einer ungesunden Beziehung, von der sie nicht loskommt. Ob Toxic-Boyfriend, Essstörung oder Depression – die bittersüße Beschreibung einer Verlockung von Dunkelheit, eine Falle, in die man sehenden Auges immer wieder tritt – der Schlag sitzt mit 37 anders als mit 17. Ich fühlte mich so viel souveräner in meiner Gefühllosigkeit. Fast könnte man ein Essay darüber schreiben, wie der Song im Climax, wenn sie beschreibt, wie sie einfach nicht loskommt, auch Social Media ganz gut einfängt.

Fighter

After all you put me through
You′d think I’d despise you
But in the end, I wanna thank you
′Cause you made me that much stronger

Mitten ins Nervenzentrum, bis heute. Let me explain. Es gibt keine Pause zwischen „Walk Away“ und „Fighter“, sondern einen einsetzen Streich-Akkord, der wie ein Messer der gerade noch wehklagenden Christina ein Ende setzt. Die Streicher legen nach, besetzen den Raum, das Klavier kommt kaum hinterher. Ich habe eine fast pawlowsche Reaktion auf diesen Song, auf das Intro. Der Song traf mich nach Jahren der schulischen Hölle, der Ablehnung und Ausgrenzung, des nicht mehr am Leben teilhaben-wollens. Cause you made me that much stronger? Konnte ich damals noch nicht eindeutig für mich beantworten, aber nach Therapie und erstmals umgeben von Freundinnen, war es das Lied, an das ich mich klammern konnte, weil das mit den Nine Inch Nails zum Schlafengehen konnte so ja nicht weitergehen. Es kreischt dann eine Rockgitarre dazwischen und Madama Aguilera singt in der Art, wie ich heute „alles anzünden“ sage. „You’re Wrong“ singt der Background und sie antwortet mit „Thanks for making me fighter“. Das Musikvideo wurde meine Religion.

You. Wont. Stop. Me. So endet die Bridge. Wer jetzt nicht steht, weiß nicht wie es ist am Boden zu liegen.

Primer Amor Interlude / Infatuation

„I am full blood Boricua“
Reads the tattoo on his arm

Ja okay, we get it. Nach der spanischen Version von Come on over hat Frau Aguilera übrigens gerade wieder ihre Latin Roots (Ihr Vater stammt aus Ecuador) für sich entdeckt – dieses Jahr erschien „Aguilera“ ein dreiteiliges, komplett spanischsprachiges Album. Jedenfalls, zupfende Gitarren, ein bisschen Storytelling zum Start, dann aber, klar: Darf ich bitten oder tanzen wir zuerst? So ein anbiederndes Latino-Arrangement hatte damals irgendwie jedes Pop-Album, es war etwas unangenehm, aber man wollte Ricky Martin und Enrique Iglesias halt nicht allein den Markt überlassen.

Außerdem: Bis heute dachte ich die Liedzeile hieße „I am from Puerto Rico“ und damit zeigt sich auch, wie intensiv ich mich mit dem Song beschäftigt habe. Das groovt schon immer noch ganz gut und man ist ja fast froh, dass es mal latin Dancesongs gab, die ohne brachial-Bass-Gestampfe und einen plärrenden Regaeton-Rapper auskamen.

Loves Embrace Interlude / Loving me 4 me

I’ve been kissed by destiny
Oh, heaven came and saved me

Nein. Es geht bis heute nicht. Gott weiß, wer das für eine gute Idee gehalten hat, aber Sincerity ist schön und alles, aber das ist Schmalz. Unerträglicher, schmerzhafter Schmalz. Der einzige Edit-Fehler auf dem Album. Vogelgezwitscher, Bachrauschen, es ist wirklich nur damit zu erklären, dass man auch die ganz junge Teenagermädchen-Zielgruppe einfangen wollte. Was fast schon schade ist: Mit minimalem Vibrato und dezenter Phrasierung glänzt sie hier durchgängig im Mezzo-Sopran und singt relativ aufwandslos den Rest der damals angetretenen Grazien an die Wand. She has the range, she always had the range.

Impossible

Impossible to make it easy
If you’re always tryin‘ to make it so damn hard

Zur Erinnerung: ein Jahr vorher war „Songs in A Minor“ erschienen und hatte Alicia Keys aus dem Nichts zur legitimen Nachfolgerin von Stevie Wonder gemacht. Dass man hier das Gefühl hat in einer kleinen Bar zu sitzen, während Alicia in die Tasten haut und Christina ihr Leid über den emotional nicht ganz so available Herren klagt, macht den Charme des Songs aus. Keys hat mitproduziert und man hört an vielen Kleinigkeiten ihre Einflüsse, aber auch wie sie uns später über Jahre hinaus Ohrwürmer einpflanzen würde. Heute würde man Christina vielleicht nahelegen dem Kerl nicht ewig die emotionale Arbeit abnehmen zu wollen – wenn er gern mauert, soll er halt, aber Beziehungen sind ja nicht zur Therapie da.

Underappreciated

How I missed those days when you stayed awake
Now you roll over and snore instead

Apropos wozu Beziehungen nicht da sind: Ich war damals ja meilenweit von gesunden zwischenmenschlichen Verbindungen entfernt, konnte aber um mich herum schon sehr schön sehen, was ich bestimmt mal nicht tun wollte (quasi unfreiwillige Frühradikalisierung): Frauen, die allein dafür sorgen, dass eine Beziehung noch irgendwas außer Routine ist. Die Produktion des Songs unterstützt die Klageschrift sehr smart, mit reduzierten Snares und Akzent-Bläsern, die unterstreichen, wie zurecht genervt sie ist. Vielleicht sollte man den Song nochmal stärker platzieren? (Oder fallen romantische Gesten nicht unter Mental Load?). Außerdem ist „I’m feeling underappreciated“ als Frau ja quasi dauernd und in jedem Kontext brauchbar, so isses nicht.

Beautiful

To all your friends you’re delirious
So consumed in all your doom
Trying hard to fill the emptiness
The pieces gone, left the puzzle undone
Is that the way it is?

Linda Perry

Auftritt Linda Perry, mittlerweile anerkannte Therapie-Producer von feministischen Hymnen für Pop-Divas. Linda wer? Sie wissen schon, die 4nonBlondes, what’s up und so? (Der Song wird nächstes Jahr übrigens 30. Ja, ich weiß. Wir sind alle alt.) Sie schrieb und produzierte den Song und war damals wie ein Stamp of approval für die „coolen“ Vertreterinnen des Pop. Ja okay, Faith Hill vielleicht nicht, a girl’s gotta eat. Es war natürlich ein Volltreffer. Zur Erinnerung: Ich war 17 und auch da bereits das absolute Gegenteil des gängigen Schönheitsideals, irgendwo zwischen Kate Moss und Gwyneth Paltrow. Ich erinnere mich an das Musikvideo, mit allen Varianten von Menschen, die damals wie heute verspottet werden. Zu dick, zu dünn, zu feminin, nicht feminin genug – an Bedeutung hat das Stück nicht verloren. Die Dynamik hat es dann auch zum perfekten Closer des Konzerts in, ich möchte sagen, Frankfurt (?) gemacht, auf dem wir später waren. Ein Stadion singt mit und weint und für einen Moment fühle ich mich jung, fast normal, fast akzeptiert. So don’t you bring me down today. Wie groß für meinen Moment meine Pläne waren, wie ich ganz kurz daran glauben konnte, dass mir diese Welt auch offen steht.

Makeover

I just want to get away
Saving all your bullshit for another day
I’m the only one that can rescue me from me

Wollen wir ein bisschen Sample-Raten spielen? Na, was treibt da unter der elektrischen Verzerrung? Anyone? Es wird einfacher an der Stelle, wo Xtina singt „it’s overloaded and I’m outta control“. Die smarte Frau Perry hat sich doch glatt bei den Sugababes und ihrem Fürimmer-Hit „Overload“ bedient, was dem Song zusammen mit den Kastagnetten (?) einen herrlich psychotischen Vibe gibt, in dem man sich mit 17 und 37 wiederfindet. Sich in gehetzter Atmosphäre wünschen, dass einen einfach mal alle in Ruhe lassen, keine Anforderungen, Änderungswünsche stellen. So falsch wie ich mich damals gefühlt hab, ein ultimativer Schlachtruf. „I’m the only one that can rescue me from me“ und auch das muss man erstmal wollen. Die Frage habe ich glaube ich erst heute, mit sehr viel mehr wissen darüber wer ich bin, eindeutig beantwortet. I just wanna live simple and free, indeed.

Cruz

Celebrating a fantasy come true
Packing all my bags
Finally on the move

Ich habe immer schon eine große Schwäche für Songs, die wie Road Trips klingen. Nach Freiheit und Neuanfang, Entdeckung und Verwirklichung. Wenn man grade erwachsen wird, obwohl man bis vor kurzem selbst nicht damit gerechnet wird, bekommen solche windverwehten Lieder aber nochmal eine andere Bedeutung. Aufbruch ist auch so ein Thema. Als junger Mensch fühlte ich mich sehr viel unfreier als heute, obwohl ich keinen festen Job, keine Versicherungen oder Miete zu zahlen hatte. Aber da war bereits eine Ahnung, dass Kapitalismus und Gesellschaft nicht gut mit all zu wilden Lebensplänen kombinierbar wären. Während der smart gelayerte Stimm-Chorus aus multiplen Xtinas singt, überlege ich, ob ich mich verändert habe, die Welt oder ein bisschen beides? Slowly drifting into a peaceful breeze, vielleicht auch weil man das Gefühl nicht los wird, dass einen keine gesicherte Zukunft irgendwo halten kann, schließlich wissen wir alle, dass nichts und niemand vor Veränderung oder sogar Zerstörung sicher ist. Okay, so fatalistisch sollte das jetzt nicht klingen, aber wie gesagt, Aufbruch-Songs funktionieren bei mir.

Soar

We start to look outside ourselves
For acceptance and approval
We keep forgettin‘ that
The one thing we should know is

Ich merke beim Schreiben, wie fast schon irrational emotional ich der zweiten Hälfte des Albums verbunden bin. Da wo es, spöttisch gesagt, um die eigenen Sehnsüchte geht. Darum als man selbst zu leben und geliebt zu werden, den Weg zu finden, das eigene Begehren zu erkennen. Das Trio aus „Make Over“, „Cruz“ und „Soar“ sind wie eine kleine Therapiestunde und sie wirkt nach wie vor. Womöglich war es damals mein kleiner Rest Überlebenswillen, der mich zu so offensichtlich aufbauender Musik geführt hat. Gospelchor you say? Yes please. Das ist alles nicht unsagbar innovativ oder mehrdeutig, im Gegenteil. Aber dafür hat Popmusik auch da zu sein, zum manchmal offensichtlich und nahbar sein. What it is in us, that makes us feel the need, to keep pretending, gotta let ourselves be. Das muss nicht cleverer sein, das ist nämlich einfach exakt wie wir Aliens uns fühlen. Ob Neurodivers oder einfach nur anders – aus einem krampfhaften Beugen in die Erwartungen ein selbstverständliches Selbstsein zu entwickeln ist der ultimative Kampf, egal wie sehr es heißt „sei du selbst“ – da findet sich schon immer wieder mal ein „aber doch nicht so.“

Get mine, get yours

If you can handle the fact
That what we have has got to be commitment free
Then we can keep this undercover lovin‘ comin‘
Hidden underneath the sheets

Fast schon irrtierend, wie sexuell befreit dieses Pop-Album 2002 war. Vor Tinder und der offenen Diskussion um die Sinnhaftigkeit von Monogamie. Ich gebe zu, dass ich dahingehend immer schon zu logisch, zu pragmatisch unterwegs war, als dass ich mich verpflichtet gefühlt hätte, irgendwelche konventionellen Dinge einzugehen. (Ist auch ein Weg sich das ewige Single-Sein schön zu reden, aber es ist wirklich okay.) „Put your hands on my waistline“ ist die Art von direkter Bedürfnis-Kommunikation, die wir heute immer noch predigen. Dazu natürlich Synthesizer deluxe, die Produktion hat entsprechend rote Ohren. Aber jenseits von Anaconda und co. – wo findet das den heute statt??

Dirrty (feat. Redman)

Gonna get rowdy
Gonna get a little unruly
Get it fired up in a hurry
Wanna get dirrty
It’s about time that I came to start the party

Nun, wo wir schon beim körperlichen sind. War das damals skandalös. Das Video (David LaChapelle, what did people expect?), der Song, die gottverdammten Chaps – so unfassbar viel künstliche Aufregung, man kann es sich heute gar nicht vorstellen. Aber ja, knallen, tut das Ding bis heute. Ich erklär da jetzt nicht weiter rum, dreht mal lieber auf.

Stripped Pt. 2

To all my dreamers out there, I’m with you
All my underdogs, (ha) I feel you
Lift your head high and stay strong
Keep pushin‘ on

Luft holen, das high von den Power-Songs und Dancefloor-Abräumern mitnehmen, wir fahren jetzt runter, hold on.

The Voice within

No one reaches out a hand for you to hold
When you look outside, look inside to your soul

Du kannst keine 4-Oktaven-Stimme haben und nicht eine Power-Ballade auf dem Album haben, wo kommen wir denn da hin. Die große Wiederauferstehung, Willkommen zur Triumphabteilung. Es ist auch ein kleines bisschen die ausgestreckte Hand an das jüngere Selbst und das kann ich heute im Gegenzug zu 2002 sogar verstehen. Diese „es wird besser“ Haltung, das Bitten darum irgendwie durchzuhalten. Plus: I’m a sucker for a dramatic key change. Wenn nach zwei Dritteln der dramatische Background-Chor einsetzt, das Timing ein bisschen anzieht und Christina jede Note bis zum Anschlag singt, wie soll man da bitte nicht für sie sein? Mehr Power-Balladen braucht die Welt, das ist ohnehin das Revival auf das ich warte. Wir machen wieder Hüfthosen und klobige Schuhe, aber Vokalistinnen, die völlig überzogen dramatische Liebeslieder mit Terzen in Hochsprungrekordhöhe singen, das kommt nicht zurück? Was ist denn hier kaputt?

I’m Okay

Shadows stir at night through a crack in the door
The echo of a broken child screaming „please no more“

Damals auch noch eher untypisch, derart autobiografische Trauma-Aufarbeitung auf gefälligen Pop-Alben, aber die endeten ja auch nach 12 Songs, also let’s go. Christinas Vater war nach ihrer Aussage gewalttätig gegenüber ihrer Mutter, bis die beiden gegangen sind. Ich habe zu dem Thema, Gottseidank, keinen Bezug, aber zur heilenden Wirkung von Oversharing. Ich schreibe jetzt sei über 20 Jahren ins Internet, auch den dunklen Kram. Als ich jünger war auch noch viel direkter, klarer. Es ist egal wie groß die Bühne ist, die Überwindung eigene Geschichten zu teilen, Anknüpfpunkte und Wiedererkennung zu schaffen – das war ursprünglich gar nicht meine Absicht, aber es war genau dieses Feedback, diese Verbindungen, die mich durch diese Zeiten gebracht haben. Das ist auch der oft unterschätzte Wert von Social Media: Jenseits von Inszenierung und Memes wird Leben geteilt, mit Niederlagen, Verlusten und Wunden. Es ist, gerade aus der Sicht von jemanden, der sich im „echten“ Leben sehr schwertut genuine Beziehungen zu Menschen herzustellen, die beste Art von Signal zu zeigen, dass man einander gegenüber verwundbar ist, sein möchte. Ich bin so dankbar für alle, die sich mitteilen, sich mit mir teilen.

Keep on singing my song

Every time I tried to be what they wanted from me
It never came naturally
So I ended up in misery
Wasn’t able to see
All the good around me

Der Song ist ein Mantra und existiert vermutlich nur wegen einer einzigen Note, aber meine Güte es funktioniert halt. Der begleitende Chor, die immer offenere werdende Stimme. Bis heute halte ich die Luft an, wenn sie nach über 4 Minuten Hymne ansetzt und mit einem fast 13 Sekunden-Ton nochmal alle Tore öffnet. Als würde jemand meinen Brustkorb aufmachen, damit noch mehr Luft in die Lungen, mehr Blut ins Herz, mehr Sauerstoff in alle Zellen können.

Jetzt, wo ich den Song höre, nachdem ich tief in meinen Erinnerungen und meiner eigenen Entwicklung gewühlt habe, öffnet es auch die Befreiungs-Tränen, die den Blick auf eine lange Reise klären. Eine Reise die vermutlich kaum ihre Mitte erreicht hat, aber deren Meilensteine mittlerweile öfter aus Brücken den aus versperrenden Felsen bestehen. (Ja, ich hör ja schon auf, is mir auch ein bisschen peinlich.)

I Will Be

Pünktlich zum Zwanzigsten hat Christina einen neuen Song zur Sonderedition ergänzt und tja, manchmal passen Dinge einfach.

I will be strong on my own
I will see through the rain i will find my way
I will keep on traveling this road
‚till i finally reach my dream till I’m living and I’m breathing my destiny

Für N., C. und A. (auch wenn du einfach aufgehört hast mit mir zu sprechen.)

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2 thoughts on “Still fighting – 20 Jahre „Stripped“

  1. Ich unterschreibe ja (fast) alles genau so. Auch ich höre dieses Album heute immer noch mit Gänsehaut und frage mich, warum es danach nie wieder etwa ähnliches gab. Ich versuche es meinen Töchtern näher zu bringen (sie sind noch nicht ganz so weit, aber ich bleibe dran). Und ich würde auch auf Frankfurt tippen, wobei mir, komischerweise, Walk Away total im Gedächtnis geblieben ist. Und, dass es nach 80 Minuten schon vorbei war.

    Trotzdem … tolle Frau, tolle Zeit und immer noch ganz besonders in meinem Herzen.

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